SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach
Blick, der Aufschrei der Mutter, das Herumfahren der Menschen und die Feststellung von Gabriel, dass er betroffen war, das alles dauerte nur wenige Momente. Er schaute die Frau mit ihren verschreckten Augen an, dann Ramon, den Jungen, der sein Geheimnis, um das er selbst nicht wusste, entlarvt hatte, sah vor sich auf den Boden, blickte zu den Seiten, schaute hinter sich, aber er konnte keinen Schatten von sich ausmachen. Erst Verwunderung, dann schon der Anfang von Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Der Abgrund einer Hölle begann sich in Sekundenschnelle aufzutun. Ein Abgrund, der ihn in die Tiefe reißen würde, sich anschickte, ihn zu verschlingen, ohne dass er aus der Welt verschwand. – Wie konnte das sein?
Die Frage stellten sich ebenso alle, die in befremdender Neugier herbei eilten.
Behäbiges Dorfleben unter südlich heißer Sonne, das von einem Moment zum nächsten einem Aufruhr gewichen war.
Um Gabriel herum bildete sich ein Kreis, türmte sich eine unüberwindbare Mauer aus Leibern, die immer bedrohlicher wurde, weil die Hinzukommenden die vor ihnen Eingetroffenen nach vorne drängten.
Die magische Linie, gut drei Schritte zu Gabriel mochte sie betragen, wurde aber unter heftiger Gegenwehr der von hinten Bedrängten, die all ihre Körperkraft zum Abstand halten aufwenden mussten, nicht überschritten.
Nur nicht von dem Jungen berührt werden. Nur nicht zu nahe kommen.
All das, was ihnen in ihrer Lebenszeit über den Satan und die dämonischen Mächte beigebracht worden war, dem sie sich in dem sicheren Glauben, dass sie wohl nicht heimgesucht würden, so gerne schaudernd überlassen hatten, war jetzt präsent, so unglaublich, zum tiefsten Fürchten nah.
Schau, er hat tatsächlich keinen Schatten! Welche Ungeheuerlichkeit! Er steckt sicher mit dem Teufel im Bunde!
Das Seelenheil war in Gefahr. Diese Befürchtung gesellte sich instinktiv zu ihrer Neugier. Alles Fremde, alles nicht Erklärbare wurzelte in Satans Reich.
Gabriel, dieser so weiche, so empfindsame Junge mit seinen mädchenhaften Zügen, er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte Angst vor der Menge, die ihn mit ihren augenblicklich finsteren und gereizten Blicken ausgrenzte. Und er hatte Angst vor sich selbst. – Er war anders als die anderen.
Tiefe Scham überkam ihn, heißes Blut durchströmte ihn, sein Herz hämmerte, so als würde es zerspringen wollen.
Würde es das doch tun, dachte er flehentlich. Er hatte kein Recht zu sein. Eine schmerzliche, rasch sich einstellende Empfindung.
Sekunden, Augenblicke, in die sich die Ewigkeit eingrub. Die Zeit hörte auf zu fließen, war in diesen Augenblick gemündet und schien ihn nicht überwinden zu können.
Erste Feindseligkeiten waren zu vernehmen.
»Ich hab es mir immer schon gedacht. Der Junge ist mit der Finsternis im Bunde. In unsere Mitte gebracht, um uns alle zu verderben!«
Cisco, der Metzger des Dorfes, war schnell seine Meinung losgeworden.
Die Alten schwiegen. Niemand ergriff das Wort für Gabriel. Die Kinder des Dorfes, seine Freunde, die bis eben noch ein Teil seiner kindlichen Seele gewesen waren und jetzt aus ihr heraus stürzten, blickten ihn ängstlich an, als fürchteten sie, auch von dieser Krankheit ergriffen zu werden. Einige, darunter auch Ramos, der Gabriels Makel entdeckt hatte, sahen nach, ob sie selbst noch einen Schatten warfen.
Die Situation wird unerträglich für Gabriel. Er will nur noch fort, fort von diesem Platz, fort von allem Vertrauten, was zu verschwimmen begonnen hat, fort in die ewige Fremde.
»Was habe ich euch getan? Lasst mich gehen!«
Leise formen sich diese Worte einer plötzlich einschießenden Gegenwehr auf seinen Lippen, ohne dass sie eine Reaktion bedingen.
Erst als er höchst unsicher zwei Schritte nach vorne geht, bricht der Kreis der Menschen auf. Furchtvolles Zurückweichen unter dem Aufraunen der Menge, welches Gabriel einen Weg ebnet, pure Angst, die ihm eine Gasse schlägt.
Selbst nie von derartig großen Ängsten heimgesucht, setzt er einen Fuß vor den anderen. Wenn er strauchelt und Schwäche zeigt, werden sie über ihn herfallen, werden sie ihn töten. Er spürt es und umso konzentrierter werden seine Schritte, obschon sich auch sein Geist mit der neu eingetretenen Situation auseinander setzt.
Welch eine Schande, ohne Schatten da zu stehen, welch ein schmerzhafter Stich, welch eine unheilvolle Ahnung, all die Menschen jäh verloren zu haben, die ihm so sicher gewesen waren und ihm – auch wenn er um seine Besonderheit weiß – eine tiefe Geborgenheit für das Leben geschenkt hatten.
Seine Schritte werden schneller, ohne dass er fortzukommen scheint, sie gehen ins Laufen über, ohne dass er das Gefühl hat, entfliehen zu können. Er beginnt, vor sich selbst fortzulaufen, den Halt seiner Seele zu verlieren, der einsamste Junge der Welt zu werden.
Zuhause – hat er überhaupt noch eines? –, nahezu unwissentlich haben ihn seine Schritte dorthin geführt, verkriecht er sich in den kleinen fensterlosen Ziegenstall, der an das Haus angebaut ist, aber die älteren Jungen, die ihm mutig mit Abstand gefolgt sind, gönnen ihm keine Zuflucht und verraten der nachkommenden Menge den Verbleib.
Immer lauter werden die Stimmen der auflaufenden Menge, sie dringen in Pablos Gehör, in seine Siesta, die er vor seinem Hause abhält, und endlich in sein Bewusstsein. Er öffnet die Augen. Auch sein schweigsamer Mund öffnet sich.
Ehe er einen Gedanken formen kann, ehe er etwas zu sagen in der Lage ist, sieht er die Leute des Dorfes, die entschlossen heranmarschieren, darunter viele Freunde, diese bedrohlich näher rückende Menschenmenge, aus der auch schon Forderungen an ihn gerichtet werden.
»Sag ihm, dass er aus dem Stall kommen soll!«
»Ja, treib den kleinen Teufel aus seinem Versteck!«
Das größte Befremden, das seine Seele heimsucht.
*
Am Abend war eine gefährliche Stille eingekehrt.
»Sie werden wiederkommen …«
»Ich begreife das alles nicht.«
»Sie werden wiederkommen und sich hinter dem Rücken von unserem Herrn, von Sion de Albanez, postieren.«
»Warum haben wir nicht …?«
»Ihr müsst ihm und der Menge zuvorkommen!«
»Es hätte uns doch …«
»Unmöglich, bis morgen zu warten!«
»Er ist uns doch geschenkt worden!«
»Hört ihr mir eigentlich zu?«
»Aber von Gott, wie ich immer dachte, oder vom Teufel …?«
Sie schauten mit Sorge auf Gabriel, der sich in unruhigem Schlafe hin und her wälzte.
»Pack seine Sachen, Margarita, und dann weck ihn! Ich nehme ihn mit. Hier ist er in großer Gefahr!«
Die Worte stammten von Luis, dem äußerlich nur ausgezehrt wirkenden, innerlich aber noch so vehementen Freund. Er war der Menge am Nachmittag gefolgt und kurz von ihr aufgesogen worden. Dann aber war er aus ihr herausgetreten und hatte sich von ihr entfernt … auch mit seinem Verhalten. Er hatte sich schützend vor Pablo gestellt und den bedrohlichen Blicken und den hasserfüllten Wortattacken standgehalten.
»Lasst sie in Ruhe«, hatte er gebrüllt, »und schert euch fort!«
Nach einigen Momenten gefahrvollen Schweigens hatte er weitere Gegenwehr folgen lassen.
»Es gibt hier für euch nichts zu tun. Also verschwindet!«
Eine am gestrigen Tage noch undenkbare Situation war eingetreten. Luis stellte sich gegen die Gemeinschaft des Dorfes.
Gegen die Gemeinschaft, die einzige, in die er je in seinem eintönigen und armseligen Leben hinein gewachsen war, die viel mehr noch als die vertraute Landschaft, die Nähe der Felder, die Nähe der Küste, die Nähe des Meeres und die Nähe des Himmels Heimat für ihn verkörperte.