SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach

SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten - Joachim Gerlach


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Mann der Kirche, vermochte ihn aber nicht zu entdecken und beeilte sich, um Schritt mit seinem Befreier zu halten, der kraftvoll und schnell voranging.

      *

      Sion de Albanez drehte unablässig den aus dem Erbe seines Vaters stammenden Goldring an seiner linken Hand. Er hatte, so sich nicht die Tür öffnete, keine Teilhabe an der Gesellschaft, die ihn umgab.

      Wenn es ein Wunschring gewesen wäre, dieser Ring, den er da fortwährend über das Fleisch seines Fingers rieb, dann wäre nichts mehr mit Schwierigkeit verbunden gewesen, dann hätte niemand mehr nach diesem Jungen gefragt, so wie man es jetzt tat, ob in offener Unterhaltung oder hinter vorgehaltener Hand.

      Er ahnte um die Zeit der ungeheuren inneren und der nachfolgenden äußerlichen Veränderung. Das gemeine Volk war nur einer ersten äußerlichen Veränderung ansichtig geworden, von der es sich in Unruhe hatte bringen lassen, die ihm aber durch das Anführen und das verkündete Bezwingen des Teufels wieder auszutreiben sein würde. Der tiefe Wandel, der anstand, würde es bald schon aber erfassen und in eine nicht mehr stillbare Unruhe und in einen bedingungslosen Aufstand gegen das alte Gefüge drängen.

      Dieser Tag, der gestrige, war der erste in einer langen Reihe von Tagen, an deren Ende nur ein Wandel stehen konnte, dem auch er sich – mehr als alle anderen es tun mussten – zu stellen haben würde.

      Festungen würden geschliffen, Mauern, solche aus Stein wie jene aller Gedankenwelten, zum Einsturz gebracht, eine neue Welt mit eigener Ordnung offenbarend und die alte unter sich begrabend und der Vergessenheit zuführend.

      Er hatte von der Revolution in Frankreich gehört, von den umstürzlerischen Kräften, von der Erhebung des gemeinen Volkes, von dem Geschwür, das sich durch Europa zu fressen begann.

      Wo sollte sein Platz in dieser neuen Welt nur sein? Es gab ihn nicht in seinem engen stolzen Denken, das in der bloßen Fortführung alter Traditionen verwurzelt war. Deshalb musste er, wie aussichtslos es vielleicht auch war, sich gegen diese neue Welt stemmen und ihrem Anbeginn kämpferisch gegenüber treten.

      Und der Schlüssel zu dieser neuen Welt war dieser Junge.

      Verdammt, wo steckte er nur?

      Sion de Albanez drehte weiter den schmalen Ring an seiner linken Hand und wartete auf die Kundschafter, die er ausgesandt hatte.

      Aus allen Richtungen strömten sie, teilweise erschöpft, bis tief in die Nacht herbei. Keiner aber trug die erlösende Nachricht auf seiner Zunge. Der Junge war wie vom Erdboden verschwunden. Für Sion de Albanez das untrügerische Zeichen, dass hier Mächte zugange waren, gegen die er vergeblich zu Felde zog.

      Wenn der Junge in spätestens zwei Tagen nicht zu finden war, würde er sich vielleicht schon an einem Ort aufhalten, bis wohin sein langer Arm nicht mehr reichte. Jede Stunde, in der die Suche nicht erfolgreich war, führte ihm die Notwendigkeit klarer vor Augen, dass es vorrangiges Tun der heiligen Kirche mit ihrem weiten Netz an Spitzeln und Informanten werden musste, die Rolle des Jägers zu übernehmen.

      In die Rolle des Handlangers hatte sie sich trotz des Wissens um ihre Gewichtigkeit schon längst eingefunden.

      Die Wege waren geebnet. Missliebige Personen verschwanden, sie wurden urteilslos der ihnen gebührenden Gerechtigkeit zugeführt und verdient für alle Zeiten aus ihrem gewöhnlichen Leben gerissen … an einen Platz, an dem sie nur noch auf den Himmel hoffen durften.

      Hinter schweren unüberwindbaren Klostermauern hatte die Kirche sich schon mancher armen Seele angenommen und ihr den Weltenbezug genommen.

      Auch Gabriels Spur hätte sich nach der Vorstellung von Sion de Albanez in einem weit entfernten Kloster unter der Obhut schweigsamer Mönche, von einem milden Segen der Weltlichkeit in ihrer Überzeugung gestärkt, bis in die Ewigkeit hinein verlieren sollen.

      *

      Eine Stimme aus der Ferne drang durch das stickige Dunkel zu ihm vor.

      Eine Stimme, die ihm vertraut war.

      Eine Stimme aber, die hier an diesem Ort nicht wenig ihre Vertrautheit eingebüßt hatte.

      Eine Stimme, die sich gegen die bedrohliche Lage stemmte.

      Eine Stimme, aus welcher er den ungebrochenen Willen heraushörte.

      Eine Stimme aber auch, die an Kraft eingebüßt hatte.

      »Sag, wie sich alles zugetragen hat!«

      »Es war das Letzte, was ich für ihn tun konnte.«

      Die Antwort fiel leise aus; ungehört erstarb sie fast auf den Lippen. Sie musste auch nicht laut sein, denn der, der sie verlangte, hatte sie so oft schon abverlangt.

      Bilder, abgespeicherte, stiegen ins Bewusstsein auf.

      Bilder, neue, ohne das Fundament des Geschehens, kamen hinzu, überlagerten die anderen und halfen, die Furcht zu unterdrücken.

      Dieser Ort hier war einer der einsamsten in ganz Spanien. Wem er zuteil wurde, der sah kein Licht und keine Welt. Umso dringlicher, das Licht einer hohen Vorstellung den traurigen Ereignissen entgegenzustellen. Gewandet in Weiß, von gleißendem Licht umhüllt, die Welt all ihre Schatten verlierend und dann auch ihn durch seinen Ritt zum Himmel hin.

      Diese Geburt an Phantasie, tiefen Frieden verströmend, war sie des Glaubens nicht wert? Oder sollten ihn weiter die Bilder von Blut und Gewalt heimsuchen und ihn in einen noch tieferen Abgrund stoßen?

      Das Dahinvegetieren in diesem dreckigen, von Ratten behausten Loch war die Hölle. Und diese Bilder stammten auch aus ihr.

      Und das nagende Gewissen, die Hoffnungen nicht erfüllt und versagt zu haben, war mehr noch die Hölle.

      *

      Auch ein anderer Ort war fern des Lichts und aller Welt.

      Auch er war ein Gefängnis, ein Gefängnis der besonderen Art. Ein Gefängnis, aus dem es keine Rückkehr geben sollte. Ein Grab zu Lebzeiten schon.

      Chorgesang aus der Hölle angestimmt, reinster Stimmen sich bedienend, drang aus der Ferne schwach in das Dunkel ein.

      Doch aller Feindlichkeit der ihn umgebenden und seine Freiheit beschränkenden Welt zum Trotz gingen ihm immer und immer wieder warme Bilder voller Einbildungskraft und Glück durch den Kopf.

      Nicht in Worte zu fassen, was er dort sah.

      Helle Farben, lichtdurchflutet, öffneten sich tief in einem Abgrund, überwanden ihn in großer Eile, strömten einem Himmel von fliehenden dunklen Wolken entgegen und zerbarsten, um im selben Augenblick das Firmament und alles Land in einen gleißenden Schein zu tauchen, durch den von einem nahen Gipfel ein noch viel helleres Licht durchzustechen vermochte.

      Und er fühlte sich von diesem Lichte angezogen und überwand alles an irdischen Kräften und schwebte ihm, einem Engel gleich, schwerelos zu.

      *

      Pablo atmete bedrückt die gefährliche Stille und den schweren Duft des Raumes ein, den er noch nie zuvor betreten hatte.

      Eine Welt nah der seinen und dennoch so viele Welten entfernt. Da schienen selbst die Inbegriffe aller Fremdheit für ihn, die menschenüberlaufenen Viertel der Altstadt von Cadiz, El Pópula, La Vina und Santa Maria, mit ihren schmalen dunklen Gassen vertraute Orte zu sein. Nah dem Erwachsensein hatte er sie ein einziges Mal besucht, nach der für ihn weitesten Reise seines Lebens zu den religiösen Festen in der heiligen Woche vor Ostern, zu den Dutzenden von Prozessionen, die von den Nazarenos mit ihren schwarzen, unheimlichen Spitzkapuzen angeführt worden waren.

      Pablo saß mit unheilvoller Empfindung im Privatgemach von Sion de Albanez.

      Es war ein Ort, den er sich nie im Leben vorzustellen bemüht und den zu betreten er niemals sich gewünscht hatte.

      Diesen seinen Herren, den von ihm geachteten aber nicht geliebten, den so hoch über ihm stehenden und herzlosen, hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte ihn allerdings hören können, mit seiner unverwechselbaren Stimme, so laut sogar, dass es ihm durch Mark und Bein gegangen


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