SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach
endgültigen Zusammenbruch von Pablos Welt ankündigten, in weiteren in den Raum geschleuderten Fragen, auf die keine Antwort erwartet wurde, und schließlich in gereizten langatmigen Ausführungen ob der von Herrschern wie ihm so oft schon geübten Gnade und der nicht auslöschbaren Undankbarkeit aller Generationen von Untergebenen. Es war eine rigorose Abrechnung mit dem niederen Stand, mit Pablo insbesondere, ein Schuldspruch, dem allein die Verhängung tödlicher Strafe entsprechen konnte.
Endlich hatte sich Sion de Albanez sichtlich verausgabt, war er an die Stelle gelangt, wo eigentlich alles zum Erreichen des Zieles gesagt war, wo nur noch das weitere Vorgehen zu skizzieren war, um seinen Triumph, seinen Sieg über Verrat und Niedertracht, vor der nachfolgenden Tat schon zu vollenden. Pablo spürte, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Sein Zerreißen schien unausweichlich.
Wenn er jetzt nichts unternahm und seinen Herrn die weiteren Worte, die zu erwarten waren, formen ließ, würde es zu spät sein.
Eine einzige Karte hatte er noch. Aber er zweifelte, ob sie zum Vorteil gereichen konnte. Es würde der Versuch sein, der Rätselhaftigkeit, die Gabriel umgab, den Mantel einer göttlichen Bestimmung umzuhängen.
Pablo kramte in ungewohnt schneller Abfolge seiner Bewegungen aus dem Umschlag seiner Kutte den abgegriffenen Lederbeutel mit den Oliven und dem Papierfetzen, den er so oft schon hervorgeholt hatte, ohne die darauf vermerkte Botschaft jemals in sein Verständnis aufnehmen zu können.
Ein kleines inzwischen vergilbtes Paperstück mit einer Schrift darauf, die, so geschwungen und flüssig sie war, von einem geübten Schreiber stammen musste. In das kleine Bastkörbchen, in dem sie Gabriel aufgefunden hatten, als Beigabe gelegt.
Er hielt das Stück Papier seinem Herren entgegen.
»Diese Worte hatte er bei sich.«
Wer damit gemeint war, bedurfte keiner Erklärung.
Die Miene von Sion de Albanez drückte Befremden aus. Einen Moment lang wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Dann riss er den Fetzen Papier an sich. Pablo hatte den Blick wieder gesenkt und wünschte sich ein Wunder herbei.
Augenblicke der Stille. Die Zeit schien stillzustehen.
Endlich schaute Pablo auf. Was er sah, machte ihn in dem einen Moment noch stutzig und jagte ihm in dem nächsten einen tiefen Schrecken ein. Die Bestürzung im Gesicht seines Herrn, das Unvermögen, die Herrschaft über sich zu behalten und die Anklage fortzusetzen oder das Urteil zu sprechen, das Zittern seiner noch weißer gewordenen Hände bis dass noch nicht einmal das Papierstück von ihm zu halten war und dieses zu Boden fiel, nein, damit hatte er nicht gerechnet.
»Woher …?«
Sion de Albanez fand nicht zu weiteren Worten. Mühsam stützte er sich mit einem Arm auf den Schreibtisch und langte nach dem Glöckchen, welches alle Worte ersetzte.
Ein mächtiger Hieb musste ihn getroffen haben. Pablo hatte keine Erklärung dafür.
In einem Augenblick noch der Allgewaltige, der Herr über Leben und Tod, und im nächsten schon von dem ersten weltenweit entfernt.
Selbst das kraftlose Läuten wusste die Dienerschaft von Sion de Albanez zu befleißigen. Sofort tauchten mit gespreizten Gesten zwei seiner Männer auf, um jeden Befehl ihres Herrn entgegenzunehmen und aus seinem Wollen Wirklichkeit werden zu lassen.
Mit einer Handbewegung deutete Sion de Albanez an, dass er Pablo nicht mehr in seiner Gegenwart duldete. Seine Männer fassten den alten Mann stumm an, bereit, ihn fortzubringen. Doch Pablo setzte sich zur Wehr und befreite sich aus ihren Griffen. Er beugte sich zum Boden hinunter, nahm den Zettel auf und packte ihn wieder in den Lederbeutel. Dann stand er seinem Herrn gegenüber. Er wagte es nicht, ihn anzusehen, und nahm Demut an.
Sion de Albanez gab seinen Männern ein weiteres Mal das Zeichen, Pablo wegzubringen. Dann sah er ohnmächtig zu, wie seine Anweisung erfüllt wurde.
Die Männer hatten keine augenblickliche Order erhalten, was sie im Weiteren mit Pablo tun sollten. Als er nach draußen vor die Eingangspforte gebracht worden war und die Tür sich hinter ihm schloss, hätte er sich denken können, dass dies vorher schon bestimmt sein musste. Pablo aber war verwirrt und hatte tausend Gedanken und hatte keinen. Auch wusste er im Moment nichts mit seiner wieder gewonnenen Freiheit anzufangen. Er ging ein paar Schritte von der Eingangspforte weg, blieb stehen und drehte sich um, Ratlosigkeit in seinem Blick.
Er hatte nicht die geringste Erklärung für das Vorgefallene.
Sion de Albanez saß gebückt mit kaltem Schweiß auf seiner Stirn an seinem Schreibtisch. Der Schock, der ihm eingefahren war, hatte ihn nahezu bewegungslos gemacht. Seine Körperhaltung war gebrochen.
Die neue Zeit hatte schon angefangen, etwas Ungeheuerliches steuerte unaufhaltsam auf ihn zu.
Der Schlund der Hölle hatte sich zu öffnen begonnen, um ihm das Los des Untergangs zuteilwerden zu lassen, und er, er wusste nicht, wie seinem Schicksal zu entkommen war.
Die Worte auf diesem Papierfetzen, wer konnte sie nur verfasst haben?
Diese eine Frage, immer wieder formulierte sie sich auf seinen Lippen.
Wer hatte diese Worte geschrieben? In wessen Sinn nur war dieser geheimnisvolle Satz eingedrungen.
Woher stammte das Papier? Wie nur hatte es in diese Welt finden können? Wie hatte dieser ärmliche alte Mann es in seine Hände bekommen?
Diese Worte hatte er bei sich.
Sion de Albanez dachte an Pablos Äußerung. Wie aber konnte es sich zugetragen haben, dass dieses schattenlose Teufelskind zusammen mit diesem Papierfetzen in das Haus des Fischers gekommen war?
Die Worte, die auf ihm standen, waren Jahre vorher gesprochen worden.
Worte, die nur er vernommen und an niemand weitergegeben hatte.
Worte, die ein einziges Rätsel waren, welches zu lösen er sich nicht im Stande sah.
Worte, die nicht zu seinem Vater passten.
Worte, die nicht im Angesicht des Todes zu sprechen waren.
Und doch war es geschehen. Und doch hatte sein Vater sie gesprochen. Und auch waren es die letzten Worte, die er vor seinem Tode sprach.
Leise, aber klar verständliche Worte … wie ein schleierhaftes Vermächtnis ihm mit auf den Weg gegeben, während er noch darauf harrte, dass ihm eine ehrenvolle Aufgabe aufgetragen wurde.
Seinem Nachfragen, Unverständnis darüber ausdrückend, was das Gesagte betraf, war nur noch Schweigen gefolgt.
Nein, diese Worte würde er nie vergessen.
Und jetzt hatte er sie gelesen, in einer Handschrift, die er nicht kannte, Wort für Wort in der Reihenfolge, wie sein Vater sie auf dem Totenbett gesprochen hatte. Gelesen auf einem zerfransten, aus einem Brief heraus gerissenen Papier, welches ein alter bedeutungsloser Mann mit sich herumtrug.
Es gab sie also doch – konnte es einen Zweifel nur geben? –, diese Verbindung, um die er lang schon ahnte, die er aber nicht wahrhaben wollte und die nie in das Wissen aller reifen durfte.
Der Teufel musste seine Hand im Spiel haben.
Allmählich dämmerte es Sion de Albanez, dass er Pablo nicht hätte gehen lassen dürfen.
Was würde sein, wenn er überstürzt aufgebrochen war, um sein Heil in der Flucht zu finden? Wenn seine Männer ihn nicht wieder einfingen, würde er nie etwas über die Herkunft dieses Papiers erfahren.
Eigentlich hatte er Pablo nur schärfste Strafe androhen und ihn dann laufen lassen wollen. Die Menschen sollten zu hören bekommen, dass er, der Herr von Albanez, nicht mehr als sie über den Verbleib der Verschwundenen zu berichten wusste.
Kraft seiner Geburt war er ihnen keine Antwort schuldig. Aber er wollte es auch vermeiden, dass im Volk Gerede aufkam. Über die ganze Geschichte würde, wenn niemand der Verschleppten mehr auftauchte, und dafür wollte er sorgen, nach bestimmter Zeit Gras wachsen.
Jetzt