SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach
in ihm geboren, ihm in ständiger Begleitung zusetzend und ihn und seine Sinne allmählich zersetzend.
»Beeil er sich«, rief er ungeduldig dem mit seinem Knecht an dem geborstenen Rad arbeitenden Wagner zu, »wenn er nicht auch noch brennen will!«
Das Ende der grausamen Despotie nahte, aber es nahte unmerklich und noch verrichtete der Inquisitor ungestört trotz fehlender päpstlicher Billigung seine Blutarbeit.
Doch neue Zeiten würden über das Land kommen, fremde Besatzer bringen und Altes in den Abgrund der Vergangenheit stoßen.
Seine heilige Arbeit, sie würde bald schon der Verdammnis ausgeliefert und unter Strafe gestellt sein. Das Schicksal würde es jedoch zum einen so gut noch mit ihm meinen, dass er den Anbruch der neuen unseligen Zeit nicht miterleben musste und sich nicht um sein Lebenswerk gebracht sehen würde. Zum anderen wartete es geduldig auf ihn, um seinem Leben mit besonderer Grausamkeit zu begegnen. Das, was er auszumerzen gedachte, würde sich aus dem Staub erheben und über ihn und über die fremde Macht gleichermaßen triumphieren und dem Volk die wahre Freiheit bringen.
Dafür aber musste jetzt und fortan das kleine Leben aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz ob der riesigen Mächte, die ihm gegenüberstanden, unversehrt bleiben. Ein Atemstoß des Schicksals nur, ein einziger, und das Licht dieses Lebens war erloschen und eine immerwährende Dunkelheit die Folge.
*
Gabriel wälzte sich in schweren Träumen. Auch wenn er nicht um sein Leben fürchtete, wie es fraglos hätte sein müssen, wenn er alles nach seinem Dasein Trachtende zu bedenken in der Lage gewesen wäre, so nahm doch die Veränderung, die neue Zeit, seine kindliche Seele, die Schöpferin seiner Traumwelt, gefangen.
Tagein, tagaus, auf Wochen schon von der Welt, von seinem gewohnten unbeschwerten Leben getrennt, um das Rätsel seiner Schattenlosigkeit weiter nicht wissend, das Gefühl des Bewachtwerdens bleiern auf ihm liegend, konnte er trotz seines ungebrochenen Willens und trotz der Hilfe, die so nahe war und der er sich sicher sein durfte, nicht unbelastet sein.
Was war aus Mutter und Vater geworden? Würde er sie noch einmal wiedersehen? Würde er sein Dorf noch einmal wiedersehen? Hier, wo er jeden Busch und jeden Winkel kannte, wo seine Kindheitsjahre trotz aller Armut und Entbehrung so verlaufen waren, dass er mit keinem anderen Jungen, und wäre sein Vater selbst ein König gewesen, hätte tauschen wollen.
Würde er je wieder mit seinen Freunden zusammen sein? Würden sie ihn wieder in ihren Kreis einlassen, mit ihm spielen und ihm ihre Freundschaft zurückschenken? Und wer hütete jetzt die Ziegen, mit denen er Tag für Tag über Stunden so gerne unterwegs gewesen war? Und ob ihr Nachwuchs schon da war?
In den Stunden und Tagen und Wochen seines Aufenthalts hier an diesem dunklen Ort sehnte er sich, obwohl er keine Zweifel hatte, dass alles sich zum Guten wendete, zunehmend nach der Freiheit.
Freiheit, wie sie ein an dieser Küste geborenes Kind verstand, der Welt an jedem Tag, in jeder Minute gar, neu begegnen zu dürfen, neu erworbenes Wissen, neue Erfahrungen und Empfindungen in seine so offene Seele einzuspeichern und sie mit dem gleißenden Licht, das während des Tages aus dem weit gespannten Himmel unaufhörlich floss, dem unduldsamen Brausen des Meeres und den rauen Winden zu einem unvergesslichen Augenblick seines Lebens zu verschweißen, geborgen sich wissend unter dem Schutz der hohen Mächte, auch wenn sein Wesen so besonders war und kein Schatten den Boden, den er beschritt, bedecken konnte.
Hatte er nicht doch vielleicht etwas falsch gemacht, dass Gott ihn so anders gemacht hatte?
Gabriel dachte nach, ließ die Zeit, die sein Geist festgehalten hatte, in die Erinnerung fließen, holte ein Ereignis nach dem anderen aus dem Schattenreich der Vergangenheit, aber es drängte sich ihm keine Antwort auf. So verharrte er in der Empfindung, dass ihm hier keine Gerechtigkeit widerfuhr, aber eine letzte Unsicherheit blieb.
*
Ich muss los. Keine Minute mehr darf ich warten. – Alles schmerzte.
Es war keine Flucht, obwohl sein Aufbruch so ausgelegt werden würde. Die Pflicht, aus der Liebe und ihrer Verwurzelung geboren, sie allein rief, und das von Stunde zu Stunde lauter. Viel zu lange schon hatte er unschlüssig abgewartet.
Aber an diesem frühen Morgen, nachdem er mühsam eine knappe Erklärung für seinen Plan aufgebracht hatte, brach er aus seinem Leben aus. Alles an bisheriger Veränderung in seinem Dasein, Verlust und Zugang, war von außen hereingebracht worden, nun erfuhr sein Leben eine Veränderung, die von innen heraus, aus eigenem Willen und Streben erfolgte.
Nie hätte er sich vorstellen können, seine Heimat zu verlassen, nun aber musste es sein für die Suche nach einer größeren Heimat, die in der Seele dieses Kindes wurzelte, das Gott ihnen geschenkt hatte.
»Du und Gott, ihr werdet mich begleiten. Ich fürchte mich nicht.«
Müde alte Augen, die seinen Aufbruch verfolgten. Das Gesicht, das zu ihnen gehörte, blieb reglos, der Mund geschlossen. Aber flammende Liebe, aus tiefstem Herzen geboren und in all den Jahrzehnten dort aufbewahrt, strömte ihm zu und begleitete ihn.
Es war ein Abschied für immer. In diesem Moment wussten sie es nicht. Nie wieder aber würden sie sich sehen.
Ein letzter Blick zurück, auf das Dorf, seine Heimat, aber eine andere Heimat, die des Meeres, sie blieb ihm.
Sein Weg führte ihn an der sonnengebleichten Küste entlang. Es war der einzige Weg, der ihm richtig erschien. Wohin hätten die anderen Wege ihn bringen sollen? Er wusste nicht, wo anzufangen war mit seiner Suche.
Die Hand, seine rechte, glitt unentwegt in die Tasche, die Finger berührten wie so unzählige Male zuvor den kleinen abgegriffenen Lederbeutel.
Überall war nur die Fremde spürbar, jeder Schritt hätte sie verstärkt.
Allein das Meer mit seiner Gegenwart, das Rauschen der Brandung, das Spiegeln der Sonne in der weiten Wasserfläche bis hin zum Horizont, die Unendlichkeit des Raumes, das Verschweißen von Himmel und Wasser, das Verschweißen der Ewigkeit mit der Wirklichkeit des Augenblicks, schenkten ihm ein Stück Geborgenheit und Zuversicht für den nächsten Tag.
*
»Wenn du mit Pepa nicht sprechen willst, dann spricht sie auch nicht mit dir!«
Die Worte drangen an Gabriels Ohr, ohne dass sie eine Reaktion auslösten.
Mit offenen Augen lag er in einem Bett der Krankenstation des Klosters. Wie er hierhin gekommen war, er konnte es nicht sagen. Genauso wenig wusste er, wie lange er jetzt schon so da lag … mit offenen Augen und dennoch nicht wach.
»Pepa wird noch böse!«
Wer war Pepa?
Gabriel versuchte den Kopf zu heben, wollte schauen, zu wem die Stimme gehörte. Der erste Versuch aber schlug fehl. Eine große Kraftlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er wartete ab, ließ die Bilder, die seine Augen aufnahmen, bewusst in sein Inneres fließen.
Das Mädchen, bei dieser Stimme musste es ein Mädchen sein, war nicht zu sehen. Aber er spürte, dass es da war.
Pepa notierte, dass in dem Jungen eine Veränderung vor sich ging. Sie ging um das Bett herum, schaute ohne Unterlass nach ihm, nahm ihre Katze, die um ihre Beine herumstrich, auf und setzte sich direkt vor ihn auf den Rand des Bettes. Ihre Blicke begegneten sich. Gabriel schaute in warme braune Augen, in ein leuchtendes, gebräuntes Gesicht, in dem die Sonne sich mit der Erde vermählte. Es gehörte einem Mädchen, das vielleicht ein, zwei Jahre älter sein mochte als er. Der Blick des Mädchens wollte gar nicht zu dem von ihm Gesagten passen.
»Wo bin ich?«
Gabriel musterte seine Umgebung, bemerkte den grau getigerten Kater auf dem Schoß des Mädchens. Dann schaute er es wieder an. Ein Lächeln ließ ihm Geborgenheit zuströmen. Von dem Mädchen durfte er sich eine Antwort erhoffen.
Pepa war ein Wesen, das eigentlich nicht existierte … zumindest nicht nach den strengen Regeln des Ordens, der innerhalb dieser mächtigen Mauern seit langer Zeit sein gottgefälliges Werk verrichtete.