SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach
längst schon ihren Gang ins tägliche Grab angetreten, die Schatten, je mehr es sich für sie öffnete, wurden immer länger und mächtiger und die Luft immer kälter. Alberto war noch immer nicht da.
Wo steckte er nur? Es musste etwas vorgefallen sein!
So kannte Bruder Manuel ihn nicht.
Es gab keine schlimmere Pein als die Ungewissheit. – Mit Gott an seiner Seite war sie Bruder Manuel nicht vertraut.
Aber war Gott jetzt noch an seiner Seite oder hatte er sich abgewendet, weil ihm das, was er vorhatte, missfiel?
*
»Ich habe Angst, Gabriel!«
Spät am gestrigen Abend hatte Pepa von Bruder Manuel erfahren, dass es notwendig geworden war, dass er und damit auch sie und Gabriel dazu das Kloster verließen.
»Aber warum denn?«
Pepa hatte sich vehement gesträubt, sich mit dem Gedanken an den Verlust ihrer Heimat anzufreunden. Sie hatte im Klostergarten frisch ausgesät und die kleinen Triebe schon durch die dunkle Erde, die sie feucht hielt, schimmern gesehen.
Was sollte jetzt aus ihrem Werk werden? Und was sollte aus Pepe werden?
Bruder Manuel hatte es unterlassen, Pepa den Ernst der Lage überdeutlich vor Augen zu führen, und deshalb verschwiegen, dass ihr Leben in höchste Gefahr geraten war.
»Was hast du nur getan?«
Bruder Manuel war mehr als ein Vater für sie. Sie sah ihn fast als Heiligen an, vielmehr als andere hätte er solch eine Ehre verdient gehabt, als den besten Menschen, den Gott ihr schicken konnte, mit den Jahren zunehmend begreifend, dass sie ohne ihn nicht mehr am leben gewesen wäre.
Umso schlimmer nun die Überraschung, dass man ihm hier nicht mehr gut gesinnt war, dass er sich vielleicht etwas Böses zu Schulden hatte kommen lassen.
»Du musst nicht traurig wegen mir werden!«
Bruder Manuel hatte Pepa mit Augen angeschaut, die sich still mit Tränen füllten.
»Ich will Gabriel helfen, weil er ein guter Junge ist und Gott ihn liebt!«
»Ich habe ihn auch lieb!«
»Das weiß ich, Pepa, und deshalb musst du mir jetzt vertrauen, dass ich das Richtige tue, und mithelfen, dass wir Gabriel in Sicherheit bringen!«
»Aber sag, Bruder Manuel, es kann ihm doch keiner böse sein! Er ist doch ein Engel!«
Wenn Bruder Manuel noch die letzte Sicherheit für sein Tun gefehlt haben mochte, nun hatte er sie.
»Was erzählst du da, mein Kind?«
»Vielleicht glaubt es mir endlich jemand: Gabriel ist ein Engel. Er muss ein Engel sein, denn die werfen keinen Schatten!«
Das naive Gedankengebilde von Pepa hatte etwas grandios Überzeugendes, so als sei das Kind auf den Kern einer großen Wahrheit gestoßen.
»Es ist nicht zu glauben, was du da sagst, kleine Pepa, aber ich will es trotzdem tun!«
Bruder Manuel rang nach Fassung … vergebens. Er fing zu schluchzen an, ließ den Tränen endgültig freien Lauf.
Ein Wunder, das Wunder seines Lebens!
Und er hatte es nicht bemerkt. Es war nicht in Worte zu fassen.
Er war auch von einem Wunder ausgegangen, aber mehr von einem Phänomen und nicht von einem göttlichen Wunder in Gestalt eines kleinen Engels.
So also konnte solch ein Himmelswesen zu den Menschen kommen. Er hatte sich Engel immer so vorgestellt, wie die großen Maler der Renaissance sie dargestellt hatten und es überliefert war.
Und doch hatte Gott den richtigen Weg gewählt.
Nur die, die reinen Herzens waren, wie dieser Junge selbst, würden ihn als Engel erkennen. Alle anderen, die den wahren Glauben zu besitzen vorgaben, aber doch nur den Teufel in ihren Herzen trugen, sie würden diesen Engel nicht erkennen, sondern lediglich ein dunkles Werk des Satans.
Endlich vermochte Bruder Manuel wieder die Lage, in welcher sie sich befanden, mit durchdringender Schärfe seiner Gedanken zu vergegenwärtigen.
Er löste sich von Pepa, die er umschlungen und fest an sich gedrückt hatte.
»Mit wem hast du schon darüber gesprochen?«
»Nur mit Gabriel selbst. – Aber ich versteh es nicht. Hier, so nah bei Gott, muss ein Engel doch willkommen sein!«
»Es wäre schön, Pepa, wenn es so wäre. Aber was weißt du um die Kirche und um die Menschen, die ihr dienen? Viele hier und anderenorts denken, dass Gabriel böser Mächte Werkzeug ist. Und wenn sie herausfinden, dass ich ihm geholfen habe, in Sicherheit zu gelangen, werden sie wütend sein. Deshalb muss auch ich gehen, und du kommst mit!«
Noch immer hatte Bruder Manuel es unterlassen, Pepa aufzuzeigen, dass auch sie selbst vom Tode bedroht war.
Eine weibliche Seele in einem Mönchskloster, undenkbar. Und dazu noch bei den Kartäusern, einem Orden, der keine Verbindung mit der Weltlichkeit suchte, der abseits der Weltenlichts das Licht der Göttlichkeit aufspüren wollte und hier jedoch nicht fand. Ein Frevel ohnegleichen, ein Frevel gegen den Ordensglauben, wie so viele andere ungesühnte Frevel, ein Frevel dieser aber, der unabdingbar verfolgt und gesühnt werden musste.
Nicht nur der Inquisitor, auch der Prior würde sich erheben und die Anklage formulieren.
Pepas junges unschuldiges Leben würde in einem hell leuchtenden Flammenmeer, auf einem Scheiterhaufen von Holz enden … auf einem Scheiterhaufen auch, der durch die engstirnige Lust auf Rache fernab aller so oft bekundeten Nächstenliebe aufgebaut war.
*
Von Alberto war noch immer nichts zu sehen. – Der Vikar! Was wusste der Vikar?
Er hatte ihn mit einem auffälligen Blick bedacht, als er geäußert hatte, Alberto würde heute erst später zur Verrichtung seines Geschäftes erscheinen.
Bruder Manuel mochte den Vikar nicht, der dem alten, der ihn noch selbst zum Brudermönch ausgebildet und eine gute Seele hatte, gefolgt war.
Unter seiner Leitung und der des Priors war die Geborgenheit, die Aufnahme seiner Seele und seines Geistes, die er früher hier vorgefunden hatte und die ihn erst das Gelübde der immerwährenden Ordenszugehörigkeit, die ewige Profess, hatte ablegen lassen, verloren gegangen. Alles Augenmerk im Kloster schien sich nur noch auf die Zucht von Andalusiern zu konzentrieren. Sogar Maria Theresia hatte schon Interesse signalisiert, die hier gezüchteten edlen Pferde in ihren Besitz zu bekommen.
Der Gemeinsinn jedoch war abhanden gekommen, alle Begegnungen wirkten nur noch wie leere Rituale.
Der Prior und der Vikar hatten in ihrer elitären Eigensucht fast nur noch mit sich selbst zu tun und versäumten es zunehmend, den Pflichten nachzukommen, die ihnen das Amt aufgab. Der Pferdehandel, er nur schien noch das Einzige zu sein, wofür sie lebten.
Kein Geleit mehr verspürend war er vielleicht gerade dadurch auf seinen eigenen Weg geraten.
Bruder Manuel hatte viel darüber nachgedacht, warum er zum Abweichler geworden war. Sicher, ganz sicher, war das auch gottgewollt, um ein kleines Licht, ein Hoffnungslicht, für die Welt zu entzünden.
Der mangelnden Verbindung zu der Bruderschaft, der verschuldeten greifbaren Distanz zu ihr verdankte Pepa aber auch überhaupt erst die Möglichkeit, hier in dieser Kartause ihre Heimat zu finden.
Ein Schweigen, ein eisiges Schweigen, und kein gottgefälliges, erfüllte die Räumlichkeiten des Klosters. Gewinnsucht stand in der vorderster Reihe.
Vorgegebene Verhaltensweisen ohne inneren Halt, mechanische Verrichtung aller Pflichten und Gleichgültigkeit, was die Bedürftigkeit der Brüder anbelangte, vornehmlich die seelische. Und was diese außerhalb ihres Pflichtenkreises für ein Leben führten, war nicht von Interesse und blieb unbeachtet.
Eine