SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach

SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten - Joachim Gerlach


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      Dass es ihm möglich gewesen war, das Tor noch zu öffnen, das verzieh er sich jedoch nicht.

      Er hätte früher eingreifen müssen – in dem Moment, in dem die Verräter an Gottes Sache allesamt in ihren Verstecken auf dem Wagen hockten und er noch nicht losgefahren war.

      »Ich verlange von euch, das Leben dieser von Gott anderweitig zu richtenden Kreatur zu erhalten!«

      Der Inquisitor fasste Bruder Benicio scharf in den Blick, nicht sonderlich überzeugt von seiner ärztlichen Kunst. Allein das Zittern seiner Hände bestärkte ihn in seinem Eindruck.

      »Was schneidet er dem Kerl so tief ins Fleisch?«

      Bruder Benicio nahm all seinen Mut zusammen und schwieg. Der Inquisitor witterte Verrat.

      »Santo Dios! Weiß er, was er tut?«

      Bruder Benicio fuhr unbeirrt fort. Es ging hier um Leben und Tod! Zwar vielleicht auch für ihn, aber diese Gefahr war jetzt nicht so drastisch einzuschätzen als diejenige, die sein ärztliches Können auf die Probe stellte.

      De Torquemada war nahe daran, Bruder Benicio das Messer zu entwenden.

      Dieser bemerkte die halbe Absicht aus den Augenwinkeln.

      »Herr, bitte! Ich muss versuchen, die Blutung zu stillen! Und dazu muss ich mir den Weg zu den verletzten Gefäßen frei schneiden!«

      Der Inquisitor richtete sich auf, sein Blick aber blieb misstrauisch und voller Verachtung.

      *

      »Unmöglich, dass ich dich gefunden hätte; so dunkel ist es! Zum Glück hat der Soldat dann zu rufen angefangen.«

      »Bist gerade noch rechtzeitig gekommen!«

      Gabriel spürte, dass er noch immer nicht wieder richtig atmen konnte, und schaute Pepa mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Bewunderung an.

      »Weißt du, was mit Bruder Manuel geschehen ist? Konnte er auch noch vom Wagen runterkommen?«

      Gabriel betastete die dicke Beule an seinem Kopf und versuchte sich zu erinnern.

      »Ich weiß nicht, Pepa! Hat er uns den Hang hinuntergeworfen?«

      »Ja, es war die einzige Möglichkeit, uns zu retten!«

      Bruchstücke des Geschehenen gelangten in Gabriels Bewusstsein.

      Ein Aufstöhnen vor Schmerz war da gewesen. Es stammte von Bruder Manuel. Dann das Aufheben des Fasses, in welchem er versteckt war.

      Alles Weitere lag im Dunkeln.

      »Wir können jetzt nicht nach ihm suchen! Gott wird ihm helfen, bestimmt tut er es. Wir müssen uns erst in Sicherheit bringen!«

      Eine ganze Zeit schon hatten sie nichts mehr von ihren Verfolgern gehört.

      Trügerische Sicherheit!

      Da, was war das? Kam da nicht ein Geräusch von nah her?

      In der Stille verharren. Tonlose Momente. Klopfende Herzen. Angst.

      Jetzt kam ein Laut von der rechten Seite. Eben das Geräusch war von vorne gekommen. Merkwürdig!

      »Achtung, Pepa! Sie umkreisen uns und kommen von überall her!«

      Welch eine Nacht! Zerborstene Pläne. Ihrer Freiheit beraubte Menschen. Ein Medicus, der mit nicht ausreichenden Mitteln um das Leben eines Bruders kämpfte. Ein Vorsteher, der das Eintreffen der Inquisition wie den Anbeginn der Hölle wahrnahm. Zwei Kinder auf der Flucht, bemüht, die kleine Flamme ihres Lebens am Leuchten zu halten. Und ein alter Mann, der sich von der Küste entfernt und eben den Weg zu diesem Kloster eingeschlagen hatte.

      Die Soldaten des Inquisitors waren erprobte, am Leben allesamt gereifte Männer. Es hätte nur wenig Sinn gemacht, leise durch die Nacht zu pirschen, um den Flüchtenden nachzuspüren. Zu groß wäre ihr Vorsprung geworden, wenn diese sich eilig hätten entfernen können.

      Stattdessen teilten sich die Soldaten auf und liefen zielsicher in die Nacht hinein, einen großen Kreis dabei bildend. Zurück blieb nur der von ihnen, den sie niedergeschlagen vorgefunden hatten und der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte.

      Nach einigen Minuten begannen sie, auf ihren guten Orientierungssinn vertrauen könnend, aufeinander zuzugehen.

      Der Kreis wurde enger, die Falle schloss sich.

      »Was sollen wir jetzt machen? Sag, Gabriel! Ich habe so große Angst!«

      Gabriel legte seinen Arm um Pepa. Eine andere Antwort hatte er nicht. Ihre krausen Locken kringelten sich noch mehr.

      Wortlos blieben sie unter den fleischigen Blättern einer Agave hocken und warteten die Geschehnisse ab, währenddessen die Dornen an den Blattspitzen ihnen zu schaffen machten.

      Die Männer arbeiteten sich planmäßig durch das Gebiet. Zum Glück für Gabriel und Pepa waren sie nicht viele in der Anzahl, so dass der Ring viele Lücken aufwies, durch die vielleicht hindurchzuschlüpfen war. Immer näher kamen die Soldaten an ihr Versteck heran. Von überall her drangen, da die Männer nicht sonderlich um Lautlosigkeit bemüht waren, Geräusche von knackenden Zweigen und raschelnden Blättern an Pepas und Gabriels Ohren.

      Jetzt sind die Männer auf ihrer Höhe angelangt.

      Keine zehn Meter links von ihnen schleicht eine Gestalt vorbei.

      Von der rechten Seite nähern sich auch Schritte.

      Zusammengeduckt erwarten Gabriel und Pepa ihr Schicksal. Jeden Moment können sie entdeckt werden. Jetzt bloß keinen verräterischen Laut von sich geben. Das kleinste Geräusch kann ihr Verderben sein.

      Die Männer ziehen vorbei. Weitere Anspannung. Noch sind sie nicht in Sicherheit.

      Ein, zwei Minuten später aber konnten sie aus ihrem Versteck herauskriechen, ohne Gefahr zu laufen, gehört zu werden.

      »Rasch fort jetzt!«

      So brachen sie in eine unbekannte Welt und in eine ungewisse Zukunft auf: ein zehnjähriges Mädchen, das in ihrem ganzen Leben nur den Innenhof eines Klosters als die Welt da draußen erlebt und kennengelernt hatte und ein geschwächter Junge, der furchtsam ahnte, dass der Weg zur Heimat ein endlos langer sein würde. Zwei Geschicke, miteinander verwoben, mit nichts ausgestattet, dem Untergang näher als dem Dasein und deren einziger wohlwollender Begleiter die kindliche Hoffnung sein konnte.

      Die Hoffnung, die schwache, die Geborgenheit zurückzufinden, mit welcher sie aufgewachsen waren.

      *

      Der Tag brach ohne Dämmerung an, so als müssten die Spuren von allem, was in der tiefen dunklen Nacht geschehen war, sehr rasch bei hellem Lichte betrachtet und geprüft werden.

      Das Kloster lag in der aufsteigenden Sonne wie eine unerschütterliche Festung.

      Allein das herrenlose Gespann von Alberto, das nahe dem Tor im Innenhof stand, störte das gewohnte Bild. Die Mönche verrichteten ihr Gotteswerk wie an jedem anderen Tag.

      Unmenschlichkeit unter dem Deckmantel der Frömmigkeit.

      Alfonso de Torquemada, der die ganze Nacht mit Beten und Grübeln zugebracht und kein Auge geschlossen hatte, durchschritt das Tor und schaute unablässig von der Stelle, an der dieser verräterische Mönch sein teuflisches Werk vollbracht hatte, bis hinüber nach Jerez de la Frontera in die Weite der Landschaft, die jetzt zu dieser frühen Stunde klar war und nicht in der flirrenden Hitze verschwamm.

      Geieraugen, die sich in die tote Landschaft bohrten und sie verschlangen, nicht aber den geringsten Funken menschlichen Lebens aus ihr herauszupressen in der Lage waren.

      *

      Joaquin, der Sohn des alten Luis, kam trotz seiner nachlassenden Kräfte aus dem Staunen nicht heraus.

      Soeben hatte er seine tägliche Mahlzeit erhalten. Eine kalte Suppe, auf der ein paar Fettaugen schwammen, mit hartem Brot dabei, das erst durch Einweichen genießbar wurde.


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