SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten. Joachim Gerlach

SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten - Joachim Gerlach


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von dem Fehlen der einfachsten Fähigkeit, die jedem belebten und unbelebten Wesen gegeben war und ihm allein auf der ganzen weiten Welt fehlte, zu erzählen.

      Nur zu gerne ließ er sich von spielerischen Aktivitäten, die freilich an die Bedingung der weiteren Bettruhe geknüpft waren, ablenken. Dabei vergaß er auch schnell die ständig am Eingang zur Krankenstation präsente Wache, die alles im Auge behielt.

      »Wir haben schon vielen Schwachen geholfen!«

      »Ich meine etwas anderes, Pepa!«

      Gabriel verspürte große Unsicherheit. Er wollte Pepas Nähe nicht verlieren; sie musste aber auch erfahren, wie es um ihn stand.

      Eine Zeit lang hatte er noch gedacht, sie würde selbst herausfinden, dass er keinen Schatten warf, dass kein Licht den dunklen Kumpanen zu erschaffen vermochte.

      Gerade am Abend, wenn sie sich mit der Kerze ihm näherte, um nach ihm zu sehen, hätte sie es doch bemerken müssen.

      Manchmal forschte er auch in ihrem Beisein nach seinem fehlenden Begleiter, aber selbst dies hatte ihr die Augen nicht aufgehen lassen.

      Der Himmel oder aber auch der Teufel mochten dies noch nicht zulassen.

      »Von welcher Krankheit sprichst du?«

      Pepa schaute Gabriel mit großen Augen an.

      »Schau!«

      Gabriel führte seine Hand nah an den Schein der Kerze heran, die auf dem Hocker neben seinem Bett stand und ihnen das Licht für ihre abendliche Begegnung spendete.

      Er achtete auf seine Bewegung, gleichzeitig auf Pepas Blick und darauf, wie sie sich verhielt, ob sie zuckte oder in Stille verharrte.

      »Siehst du es?«

      Es war wie wenn alle Gesetze der Welt von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr gelten sollten.

      »Uihh!«

      Gabriel notierte überrascht, dass Pepas Erstaunen sich nur in dem einen Laut ausdrückte und sie ansonsten ganz still blieb.

      Sie hatte die Kraft, sich das Unglaubliche weiter anzusehen.

      Gabriel selbst war auch von dem Moment fasziniert. Es war jemand da, der weiter an seiner Seite blieb, der ihn nicht alleine ließ, der nicht in Angst und Schrecken verfiel.

      Er wurde auch eines Wunders gewahr. Pepa und er, wie gebannt schauten sie auf die Fläche, welche seine Hand durch das züngelnde Licht der Kerze mit ihrem Schatten hätte bedecken müssen. Aber sie lag genau so hell da wie der sie umgebende Bereich.

      Gabriel hörte auf zu atmen. Er war gespannt auf Pepas weitere Reaktion. Aus den Augenwinkeln notierte er, wie sie den Kopf zu ihm hindrehte.

      »Du bist ein Wesen des Lichts, Gabriel! Du bist ein Engel!«

      Da war sie ausgesprochen, die kindliche Ansicht, in der aber doch so viel Glaube, vielleicht sogar Erkenntnis lag. Eine Erkenntnis, wie sie sich vielleicht nur einem Kind erschließen konnte.

      Und dieser Glaube, dieses Wissen womöglich, hatte genauso viel Berechtigung wie die schon hundertfachen Äußerungen, dass der Teufel seine Finger im Spiel haben musste.

      Gabriel wurde von seinen Empfindungen überflutet.

      Er, ein Engel, von Gott direkt beauftragt, mit Botschaften, um die er selbst noch nicht wusste, ausgestattet, er, das kleine um alles beraubte Kind ein so wichtiges Wesen im Wirken der himmlischen Mächte.

      Er war unvorstellbar schön, dieser Gedanke.

      Eine so einfache, aber alles überstrahlende und übertreffende Erklärung.

      Eine Erklärung aber auch, die ihm den Boden unter den Füßen wegzog, die ihm in dem gleichen Augenblick, wie sie ihn beglückte, das tiefe schmerzliche Gefühl zuströmen ließ, nicht mehr zu den Menschen zu gehören, die Heimat aller Heimaten zu verlieren, und wenn er sie auch nur gegen eine größere, höher angesiedelte eintauschte, die zu spüren und zu begreifen er aber nicht in der Lage war.

      »Ich kann kein Engel sein.«

      Gabriel stemmte sich gegen die schmerzliche Empfindung, ausgegrenzt zu sein.

      »Engel werden bestimmt nicht krank!«

      »Dir fehlt nur Kraft!«, erwiderte Pepa. »Auch Engel brauchen Energie!«

      In dieser Nacht, am Vorabend weiterer abenteuerlicher Geschehnisse, schlief Gabriel sehr unruhig, die widerstrebenden Gefühle des Tages hatten sich Zutritt zum Reich seiner Träume verschafft.

      Allein Pepe, der grau getigerte Kater von Pepa, ließ sich nicht beeindrucken und lag zu seinen Füßen als Knäuel fest schlafend auf der Schlafdecke von Gabriel. Pepa hatte ihn zurückgelassen, damit er sich nicht einsam fühlte.

      Auch Bruder Manuel war von Unruhe ergriffen und nutzte sie, um in seiner Zelle ein langes Gespräch mit Gott zu führen.

      Allein Pepa, die unmittelbar davor stand, all das, was sie mit dem Begriff Heimat verband, zu verlieren, schlief tief und fest.

      Das Kloster stand einsam auf kahler Anhöhe unter einem sternenübersäten Himmel, der die Großartigkeit der Welt verriet.

      Doch der Frieden trog.

      Schon hatte sich ein dunkler Ring um die heiligen Mauern gelegt.

      Ein Ring aus finsterer Entschlossenheit.

      Die Santa Casa hatte ihn geschmiedet.

      *

      Der Tag, der für die Rettung des Kindes ausgewählte, war angebrochen. Das erste Stundengebet zur Prim im Kreise seiner Mitbrüder verrichtete Bruder Manuel mit tiefer Nachdenklichkeit.

      Über zwanzig lange Jahre hatte er hier nun gelebt und bis vor wenigen Tagen noch keinen Gedanken an das Verlassen des Klosters zu dieser Zeit verloren.

      Eine Station von nur wenigen auf seinem einfachen Weg.

      Wie viele Stationen würde es noch geben? Welche weiteren Pläne hatte der Herr mit ihm?

      Die Ungewissheit der Zukunft breitete sich über ihm aus. In seinen Gliedern fröstelte ihn.

      Aber der Glaube an Gott richtete ihn wieder auf.

      Auch war noch vieles zu bedenken, damit der erste aller Pläne aufging und ihnen die Flucht gelang.

      Die Wache am Eingang der Station zu überlisten, erschien ihm nicht als sonderliches Problem. Längst schon war es in Bruder Manuels Absicht gereift, ihr ein Pulver, aus Schlafmohn und der Baldrianwurzel gewonnen, in den Becher Wein zu schütten, der schon zur täglichen Gewohnheit geworden war.

      Am ersten Abend bereits, als Gabriel verlegt worden war und die Wache sich in Blickweite postiert hatte, war Bruder Manuel mit einem Becher Wein auf sie zugegangen.

      »Hier, nimm! Diese Arznei erhält jeder hier!«

      Die anfänglichen Zweifel waren schnell gewichen, da es immer nur bei diesem einen Becher Wein am Tage blieb – die spanischen Mönche hassten entgegen anderweitiger Gebräuche den Vollrausch – und sich wegen der Pflichtwidrigkeit des Nachgebens und Schwachwerdens keine nachteiligen Folgen eingestellt hatten.

      Den ganzen Tag versuchte Bruder Manuel, seine Aufregung zu unterdrücken.

      Er kümmerte sich um die Brüder, die auf der Station lagen, wie er es immer tat, mit ein wenig Zeit zum Zuhören, mit ein wenig Zeit zum gemeinsamen Beten und zum Erteilen des Segens, und verabschiedete sich im Stillen von jedem einzelnen.

      Am Nachmittag nach dem Chorgebet zur neunten Stunde, als er nach Alberto Ausschau hielt, wurde er noch unruhiger.

      Alberto kam für gewöhnlich im Laufe des Vormittags. Bruder Manuel hatte eine Erklärung dafür gestreut, warum Alberto heute erst am Nachmittag erscheinen würde, hatte etwas von einem anderen Geschäft berichtet, von dem Alberto erzählt habe.

      Der Vikar, der Vertreter des Priors, hatte ihn bei diesen von ihm aufgeschnappten Worten nur


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