"Weil die Hoffnung niemals stirbt". Marie-Rose
lassen, dass dies nur in der Fremde möglich sei. Als sein Sohn dann aber wieder vor ihm stand und seine Liebe zu Syrien bekräftigte, sah der Vater wohl genau das, was ich selbst zuvor auch gesehen hatte: dass sein Sohn nämlich bereits zu einem starken, unabhängigen jungen Mann herangewachsen war.
Ghassan hatte seine Prüfung bestanden und war an der Erfahrung gereift. Bis heute unterstützt er mich mit viel Herzblut bei meiner Arbeit mit bedürftigen Familien. Daneben studiert er an der Universität Tartus Marketing und arbeitet jeden Tag daran, seine großen Ziele doch noch zu erreichen – diesem scheinbar endlosen Krieg und den widrigen Umständen zum Trotz. Es sind solche jungen Menschen, die sich mit Leib und Seele für ihr Land einsetzen, die meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Syrien lebendig halten. Ich weiß nicht, wie viele es von ihnen in Syrien gibt, aber es sind einige. Jedes Mal, wenn ich Ghassan sehe, denke ich an sie und bete, dass sie in ihrer Treue stark bleiben. Nur so können wir auf eine bessere Zukunft für Syrien hoffen. Wir müssen standhaft bleiben und dürfen unser geliebtes Land nicht aufgeben. Die Geschichte von Ghassan zeigt, dass wir noch hoffen dürfen.
Antranik
Antranik ist Armenier und inzwischen 66 Jahre alt. In den 1940ern zogen seine Eltern nach Aleppo. Dort wurde er geboren und studierte, und gleichzeitig lernte er bei seinem Vater den Beruf des Automechanikers. So konnte er seine eigene Werkstatt eröffnen und wurde innerhalb weniger Jahre zu einem der besten Mechaniker der Gegend. Die Kunden kamen aus ganz Syrien zu ihm, sogar aus dem Libanon und Jordanien. Er war ein richtiger Workaholic und verbrachte mindestens zwölf Stunden am Tag in seiner Werkstatt, mit Ausnahme des Sonntags. Da ging er zur Kirche und verbrachte den Rest des Tages mit seiner Familie. Jeden Sommer fuhr er mit seinen Liebsten für drei Wochen in den Urlaub in die Berge von Latakia (das biblische Laodizea) oder ans Meer.
1978 hat er geheiratet. Seine Frau und er bekamen einen Sohn und eine Tochter. Beide gingen auf die Universität. Sein Sohn Aram machte einen Abschluss als Apotheker, heiratete und bekam selbst einen Sohn namens Kevork.
Seine Frau schickte Kevork jeden Tag mit einem warmen Essen zu Antranik in die Werkstatt, das er stets mit seinen Nachbarn und Mitarbeitern teilte. Die Werkstatt befand sich in der Nähe seines Wohnhauses im Viertel Al Midan.
Als 2011 in Syrien der Krieg ausbrach, dachten alle, es handle sich nur um eine vorübergehende Krise. Die Leute lebten weiter wie bisher. Auch Antranik machte es so. Er konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun, als jeden Tag in seine Werkstatt zu gehen.
Doch 2013 besetzten bewaffnete Gruppen ein Viertel namens Bustan Al Basha, nur einen Kilometer von Al Midan entfernt. Sie begannen, Al Midan mindestens zweimal in der Woche mit Mörsern und Raketen zu beschießen. Viele Zivilisten kamen dabei ums Leben. Etliche Familien sahen sich gezwungen, zunächst in sicherere Stadtviertel zu ziehen und später ganz die Gegend zu verlassen. Sie suchten Zuflucht an der Küste oder in anderen Städten wie Damaskus, wo die Gefahr geringer war.
Antranik jedoch wich nicht von der Stelle. Seine Familie unterstützte ihn darin. Auch als die Aufträge knapper wurden, ließ er sich nicht davon abhalten, Tag für Tag in seine Werkstatt zu gehen.
Am Sonntag, dem 9. Februar 2014, war er mit seiner Familie und ein paar Nachbarn zum Mittagessen in einem Restaurant. Den Rest des Tages verbrachten sie bei ihm zu Hause. Auch seine Tochter war mit ihrem Mann und ihrem Kind da. Es sollte ihr letzter gemeinsamer Tag gewesen sein.
Am Montagmorgen ging er um neun Uhr morgens in seine Werkstatt und machte sich an die Arbeit. Gegen zehn Uhr hörte er eine gewaltige Explosion, nicht weit von der Werkstatt entfernt. Er versuchte, seine Frau, seinen Sohn, seine Tochter und andere Angehörige zu erreichen, aber die Leitungen waren tot. In fieberhafter Eile schloss er seine Werkstatt ab und rannte nach Hause. Schon von weitem sah er, dass sein Wohnhaus nur noch Schutt war. Scharen von Leuten suchten in den Trümmern nach Menschen.
Schon nach einer Viertelstunde war klar, dass seine ganze Familie bei der Explosion ums Leben gekommen war. Antranik brach ohnmächtig zusammen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er nach mehreren Tagen zu sich kam, schien er keinerlei Erinnerung an das Geschehen zu haben und bat darum, nach Hause gehen zu dürfen.
Freunde brachten ihn nach Tartus. Dort fand er Aufnahme bei ehemaligen Nachbarn aus Aleppo. Eine Unterkunft konnten sie ihm bieten, Trost jedoch keinen.
Ich erfuhr in Tartus von seinem Schicksal und ging ihn besuchen. Ich tat mein Bestes, um ihm zu helfen, aber es war vergeblich. Er hatte sein Gedächtnis komplett verloren.
Einige Freunde schafften es, ihn nach Armenien zu bringen, in der Hoffnung, ihm damit irgendwie über den Schock hinweghelfen zu können. Doch nach drei Monaten bestand er darauf, nach Hause zurückzugehen.
Heute lebt Antranik wieder in Aleppo und arbeitet in seiner Werkstatt. Über seine Familie und ihr grauenhaftes Schicksal will er nicht sprechen. Schon jetzt hat er den gebeugten Gang und das tiefzerfurchte Gesicht eines Neunzigjährigen. In seiner Arbeit ist er immer noch erstklassig, aber was in seinem Innern vorgegangen ist, weiß niemand. Und ich glaube, es wird auch niemand je erfahren …
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