Space Prophet. Jörg Arndt
Mitte ist mit gutem Grund leer. Jeder kann und soll sie mit den Bildern füllen, die ihm guttun. Es gibt keine absolute Wahrheit. All unser Wissen ist Stückwerk.«
Stella blickte auf. »Diesen Satz hat meine Oma auch oft gesagt!«
Jonas lächelte. »Sehen Sie, am Ende sind wir vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.«
Sie sah ihn dankbar an. »Herr Rothenfels, Sie glauben gar nicht, wie gut mir diese Gespräche mit Ihnen tun!«
Sie schob ihre Hand vor und berührte ihn am Knie. Abrupt stand Jonas auf.
»Ich freue mich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte. Meine Kollegen und ich sind jederzeit gerne für Sie da!«
Sie sah ihn verletzt an. »Ich habe nicht von Ihren Kollegen gesprochen, sondern von Ihnen«, schmollte sie.
Die peinliche Situation fand ein jähes Ende, als die Bordsprechanlage losheulte.
»Alarm!«, sagte eine ausdruckslose Stimme. »Alle Diensthabenden sofort auf Gefechtsstation. Dies ist keine Übung!«
Stella erbleichte, drehte sich um und rannte fort. Auch Jonas machte sich auf den Weg. Sein Platz war in der Krankenstation.
Er hatte gerade den Mover bestiegen, der ihn zum Sanitätsrevier bringen sollte, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Das Schiff erbebte, schlagartig verloschen alle Lichter. Jonas spürte, wie die Kabine zum Stillstand kam. Er versuchte, bewusst zu atmen, um nicht in Panik zu geraten. Ganz offensichtlich war nur der Strom ausgefallen. Darum war jetzt das Licht aus, und der Mover stand still. Vielleicht hatte das Schiff einen Treffer kassiert.
Jonas schluckte. Und er saß hier fest, hier in diesem Sarg. Sein Herz raste. Schon als Kind hatte er geschlossene Räume gehasst. Dies als Klaustrophobie zu bezeichnen fand er übertrieben, schließlich mochte niemand gerne eingesperrt sein.
Ihn beschlich ein Gefühl, als müsse er bald ersticken, als legten sich unsichtbare Hände um seinen Brustkorb und verhinderten die Atmung. Als Sanitätsassistent wusste er genau, was jetzt passieren musste. Der CO2-Gehalt in diesem winzigen Raum würde unaufhaltsam ansteigen, bis er, Jonas, das Bewusstsein verlöre und schließlich an Sauerstoffmangel stürbe. Immerhin: Es gab deutlich schlimmere Arten, diese Welt zu verlassen. Auch wenn er sich mit seinen 26 Jahren noch zu jung dazu fühlte.
Er verbot sich weitere Gedanken dieser Art und konzentrierte sich erneut auf seinen Atem. Bewusst in den Bauch hineinatmen, langsam wieder aus.
Es gibt hier jede Menge Sauerstoff. Du brauchst keine Angst zu haben.
Ein – aus. Ein – aus. Sein Pulsschlag kam allmählich zur Ruhe. Jonas glitt an der Wand der finsteren Kabine zu Boden und machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst.
Es gibt nichts, dass sich mit einem festen Willen nicht erreichen ließe. Heute Abend hatte er in der Andacht über dieses Thema gesprochen. Dieser Satz galt auch für seine aktuelle Situation. Er konnte gerettet werden, wenn er es wirklich wollte.
Raumkadettin Obermayer würde jetzt bestimmt für ihre Rettung beten, dachte er. Sie würde den Fantasiegott ihrer Oma anrufen und sich sicher und geborgen fühlen. Beneidenswert. Aber keine Option für ihn.
Schon das erste Jahr seines Studiums hatte ausgereicht, ihm alle Reste seines Kinderglaubens auszutreiben. Und so war es wohl auch beabsichtigt. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass die alten, intoleranten Glaubensvorstellungen weiterlebten oder gar durch die staatlich ausgebildeten spirituellen Begleiter noch gefördert wurden.
Das Konzept war ebenso simpel wie wirksam: Die Kandidaten studierten zu Beginn ihrer Ausbildung Geschichte. Sie lernten die schrecklichen Folgen der Religion kennen, wurden mit Selbstmordattentaten und fanatischen Kriegstreibern konfrontiert, erfuhren von der heiligen Inquisition und deren Foltermethoden, von der Ausrottung ganzer Völker im Namen des jeweils einzig wahren Gottes, von der Unbarmherzigkeit, die die Aufteilung der Menschen in Kasten und der Glaube an das Karma mit sich brachten, und natürlich dem letzten Weltkrieg vor Beginn der neuen Zeitrechnung, der ein Krieg der Religionen gewesen war und die Menschheit beinahe ausgerottet hätte.
In späteren Semestern gewährte man ihnen dann Einblick in die verschiedenen »Heiligen Schriften« der Vergangenheit, die zu lesen normalerweise verboten war. Sie hatten sich zu oft als Werkzeuge spiritueller Brandstiftung erwiesen. Stattdessen gab es nun das eine »Buch der Weisheit«, in dem sich eine Blütenlese der besten Gedanken aus Religion und Philosophie fand, zusammengetragen zur Stärkung und Erbauung der Menschheit, die, wie sich herausgestellt hatte, ganz ohne Religiosität nicht auskam. Die großen Ereignisse im Leben, Geburt und Tod, Eintritt ins Erwachsenenalter und manches andere mehr schufen eine Nachfrage nach ritueller Gestaltung, was die Weltregierung zu der Einsicht geführt hatte, dass es besser sei, hier ein kontrolliertes Angebot zu schaffen, als religiösen Wildwuchs zu riskieren.
So war neben die Weltregierung die Weltkirche getreten, deren Geistliche wunderbare Rituale gestalten konnten und zugleich Sorge dafür trugen, dass friedensgefährdende religiöse Entwicklungen bereits im Keim erstickt wurden. Persönliche Gottesbilder wurden zwar als Privatsache akzeptiert, aber ihnen wurde keinerlei Forum geboten.
Paradoxerweise war es also gerade das Wissen um Glauben und Religion, das Jonas und seine Kollegen davon abhielt, gläubig zu sein.
Ein schreckliches Kreischen, wie von zerberstenden Metallteilen, lief durch das Schiff. Jonas erschauderte. Konnte die Peacemaker zerbrechen? Sie war doch der größte und mächtigste Schlachtkreuzer der ganzen Raumflotte! Eigentlich hätte sie nicht einmal getroffen werden dürfen. Wieder stieg die Panik in ihm hoch.
Doch bevor er sich weiter damit auseinandersetzen konnte, leuchtete endlich das Kabinenlicht wieder auf. Es knackte und ächzte in der Mechanik, ein anschwellendes Summen war zu hören. Als wäre nichts gewesen, setzte der Mover seine begonnene Fahrt fort.
Nach wenigen Minuten hatte Jonas das gewählte Ziel erreicht, die Tür glitt zur Seite, und er beeilte sich, hinaus auf den Flur zu gelangen. Dort herrschte Hochbetrieb. Überall Betten mit Verletzten. Blut. Stöhnen. Dazwischen wimmelte das medizinische Personal und versuchte alles Menschenmögliche, um den Verwundeten zu helfen.
»Rothenfels«, rief Oberstabsärztin Bartels, als sie ihn erblickte. »Sie melden sich in der POV!« Ihr weißer Kittel war mit Blutflecken übersät.
Bevor Jonas reagieren konnte, hatte sie sich schon wieder den Patienten zugewandt. Er hastete zu seinem Spind, streifte die vorgeschriebene Schutzkleidung über. Dann lief er den Korridor zur postoperativen Versorgung hinunter. Naturgemäß war es hier ruhiger als in der Aufnahme. Die Tür des Aufwachraums stand offen, drei Patienten lagen darin.
Im Vorzimmer saß ein braunhäutiger Sanitäter, der damit beschäftigt war, Daten auf einem Sketchboard einzugeben. Er hatte kurz geschnittene, leicht ergraute Haare. Trotz seines offensichtlichen Alters wirkte er durchtrainiert und fit. Das Namensschild auf seiner Schutzkleidung wies ihn als Samir Ahmadi aus.
»Na, da bist du ja endlich«, begrüßte er Jonas freundlich. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«
»Ich hing im Aufzug fest«, brummte der. »Die Energie ging plötzlich weg.«
»Ja, wir haben einen Treffer in Sektor 10 kassiert. Die Piraten haben uns übel erwischt.«
»Wie konnte das passieren? Warum haben die Schutzschilde das nicht verhindert?«
»Keine Ahnung, ich bin Sanitäter und kein Abwehroffizier. Aber ich kann dir sagen, was hier los ist: jede Menge Brüche und Splitterverletzungen. Zwölf Soldaten werden vermisst, vermutlich hat sie der Treffer ins All hinausgesprengt. Da kommt wohl Arbeit auf dich zu.«
Jonas nickte. Eine Trauerzeremonie für die Gefallenen. Das hatten sie verdient. »Und was kann ich hier tun?«
Samir nickte mit dem Kopf in Richtung Aufwachraum.
»Nummer zwei braucht eine neue Infusion. Der daneben muss jeden Moment wach werden und wird feststellen, dass er keine Beine mehr hat. Besser, wenn er dann nicht alleine