Logbuch Deutsch. Roland Kaehlbrandt
Dezentralisierung, Flexibilisierung, Modularisierung, Evaluation – das waren große, vielversprechende Wörter der Epoche, die den flexiblen Menschen im Visier hatten, den Manager der eigenen Biographie, den vollständigen homo oeconomicus.
Manche Begriffe haben ihre Allzuständigkeit für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bis heute bewahrt. Das Bemerkenswerte an ihnen ist zweierlei: Zum einen transportieren sie eine bestimmte Sichtweise. Es ist die Überzeugung, dass die Prinzipien des Wirtschaftslebens und die Methoden des Managements auch in Bildung, Wissenschaft und Kultur zur Leitschnur werden sollten, um diese Bereiche für den globalisierten Wettbewerb zu ertüchtigen. Zum andern entwickeln diese Begriffe aber ein Eigenleben über ihren rationalen Gehalt hinaus. Sie gehören inzwischen einem Jargon an, der sich über alle Fachsprachen hinweg zum übergreifenden Imponier-Deutsch gewisser Eliten und jener, die dazugehören wollen, entwickelt hat.
Mit diesem Jargon wurde die behäbige deutsche Verwaltungssprache früherer Zeiten abgestreift. Was Verwaltung war, sollte Management werden. Die Betriebswirtschaftslehre hielt Einzug. Mit dem Versprechen, dass unter dem Einfluss moderner Managementmethoden gesellschaftliche Entwicklungen aller Art rein sachorientiert, das heißt funktional und effizient, also unideologisch, gestaltet werden könnten, schaffte der zunächst rein instrumentelle fachliche Jargon den Sprung in viele gesellschaftlichen Bereiche. Seine Wörter wurden zu Zauberworten.
In ihrer Abstraktheit sind Wörter dieses Jargons jedoch ohne Substanz. Ihre Bedeutung ist zur Imponiergeste verkommen. Der Politikwissenschaftler Franz Walter bezeichnet diese „Sprache des politischen und ökonomischen Establishments“ als „Distinktionsjargon“, der „abgehoben, technokratisch, herrisch“ sei.24 Manche Wörter haben zwar infolge der Krisen von 2001, 2007 und 2011 an Unanfechtbarkeit durchaus eingebüßt; dennoch prägen sie nach wie vor die öffentlichen Debatten, stellen sie das Wortmaterial, aus dem Pläne, Programme und Rechtfertigungen sind.
Von Wandel, Struktur und Strategie
Die Wörter des Imponierdeutschen sind keine Zusammenfassung einer komplexen Wirklichkeit wie z. B. wissenschaftliche Fachbegriffe. Ihre Bedeutung liegt mehr in der Geste als in der Beschreibung oder Einordnung der Wirklichkeit.25
Einer der Kernbegriffe ist der Wandel. Der Wandel versteht sich für das Imponier-Deutsche von selbst. Es geht nicht um die Frage, ob der Wandel, der gerade im Gange ist, eine Verbesserung der Verhältnisse bringt; sondern persönliche wie auch institutionelle Fitness zeigt sich daran, dass man den Wandel überhaupt als Herausforderung annimmt, ganz gleich wie er sich darstellt. Diese Haltung ist weder reaktionär noch revolutionär – sie ist paradoxerweise entschieden fatalistisch. Der Einzelne muss sich dem Wandel stellen, er muss ihn annehmen. Dementsprechend sind Anpassungsfähigkeit und Flexibilität gefragt. Mit anderen Worten: Der Einzelne muss den Wandel umstandslos bejahen und ihm blindlings folgen. Tut er das, darf er, wenn er einst an die Spitze gelangt ist, noch etwas mehr: Er darf den Wandel mitgestalten, aber nur als Agent des Wandels, nicht als autonom handelndes Subjekt.
Ein weiteres Schlagwort ist das Wort Struktur. Für Sprach- und Naturwissenschaftler ist der Begriff klar definiert. In der Sprachwissenschaft bezieht er sich auf die Systemhaftigkeit der Sprache und wurde zum Explikandum des Strukturalismus. In der Naturwissenschaft beschreibt er die räumliche Anordnung von Atomen und Molekülen, so wie man sie aus der Röntgenstrukturanalyse erhält. Dazu braucht man Kenntnisse aus der höheren Mathematik – um aus den Beugungsbildern die Strukturdaten zu erhalten. Wie aber wird der Begriff gebraucht? Kaum noch gibt es Diskussionen ohne Verweis auf Strukturen. Gemeint sind zwar meistens Institutionen, Organisationen oder Ordnungsgefüge. Aber besser bleibt man im Ungefähren und verweist auf Strukturen. Das tun auch gern Institutionen, die bei angemahnten Verbesserungen selbst wiederum auf Strukturen verweisen. Das klingt nach Fachwissen und intimer Kenntnis der Lage. Als sogenanntes Hochwertwort eignet sich Struktur bestens als Ausflucht, zur Beschönigung, zur Vermeidung oder Umgehung konkreter Aussagen. Sie passt in jeden Zusammenhang und macht zugleich Eindruck. Und wer Struktur schon hinreichend eingesetzt hat, kann jederzeit auf Rahmenbedingungen verweisen.
Das Verführerische an den Begriffen des Imponierdeutschen ist ihre leichte Handhabbarkeit. Sie sind leicht abrufbar, klingen immer gewählt und sorgen mit dem Anschein von Evidenz für Glaubwürdigkeit. Denn der Mitdiskutant muss ja zuerst darüber nachdenken, was sein Gegenüber mit Struktur gemeint hat. Wenn er nachfragt, ist er bereits in der Defensive, weil er seine Reaktion von der Antwort des Anderen abhängig macht. Nachfragen ist für den Fragenden immer unbequem. Denn er verlässt die Ebene des unmittelbaren Austausches über Sachen, um die Ebene der Verständigung selbst anzusprechen und damit auch infrage zu stellen. Das ist auffällig, lästig und wirkt pedantisch. Schließlich gerät er auch leicht in den Verdacht, den geltenden Jargon nicht zu beherrschen oder gar aufsässig zu sein. Wer ist schon gern Oberlehrer oder Außenseiter?
Doch zurück zur Struktur. Auf die Frage, warum sie eine wichtige Unterlage für eine Sitzung vergessen habe, hörte ich einmal eine Dame sagen: „Das war strukturbedingt.“26 Damit war sie selbst entschuldigt, ohne dass man weiter nach der schuldigen Struktur gefragt hätte.
Ein anderer Klassiker des Imponierdeutschen ist die Strategie. Einst aus der Sprache des Militärs übernommen, hat der Begriff eine Karriere in der Betriebswirtschaftslehre absolviert, bevor er zu einem Begriff des Imponierdeutschen wurde. Strategie klingt immer gut. Strategisches Vorgehen beeindruckt schon als Anspruch: kein Management, das nicht strategisch wäre. Strategisches Management ist das, was man in der Sprachwissenschaft eine Kollokation nennt, einen festgefügten Ausdruck, ein sprachliches Klischee wie smaragdgrünes Meer oder kristallklares Wasser. Ohne Strategien kommt inzwischen keine Institution aus. Der Begriff hat sich in allen gesellschaftlichen Bereichen festgesetzt: in Vereinen, Bürgerinitiativen, Museen, Ministerien. Geplantes Vorgehen auf lange Sicht allein reicht nicht mehr. Der Handel, der mit der inflationären Verwendung von Strategie verbunden ist, ist allerdings durchaus riskant: Indem man den Begriff aus dem wirtschaftlichen Bereich in andere Bereiche überführt, nimmt man – bei aller semantischer Aushöhlung – doch einen Teil seines Inhalts und der diesem zugrundeliegenden Denkungsart unweigerlich mit.
Von Visionen, Innovationen und Zukunftsfähigkeit
In der scheinbar durchrationalisierten Welt des betriebswirtschaftlich geprägten Imponierdeutschen muss nun doch auch Platz für Phantasie sein. Diesen Platz nimmt die Vision ein. Visionen waren einst die Gesichter, die Gott den Propheten eingab oder die Götter ausgesuchten Menschen. Was heute bleibt, sind Visionen für das Marktgeschehen: Visionen für das Marketing, für neue Produkte.
Wem die Strategie nicht genügt, der greift zur Vision. Sie hat den Vorzug, weit in die Zukunft reichen zu dürfen, ohne die Überprüfbarkeit einzufordern, die die Strategie im Schlepptau hat. Deshalb ist die Vision beliebt. Visionen sind im modernen Imponierdeutschen genialische Vorwegnahmen künftiger gesellschaftlicher Verhältnisse, möglichst unter Bezugnahme auf Gewinn- und Erfolgversprechen. Visionen sind deshalb grundsätzlich nicht negativer Art, sondern ausschließlich positiv besetzt. Ein Stichwortgeber der Zeit, der die Zukunft in düsteren Farben malte, erhielte wohl kaum das Etikett des Visionärs, im Unterschied etwa zu antiken Gestalten wie Teiresias oder Kassandra.
Das Imponierdeutsche an der Vision ist der Heiligenschein ohne Risiko. Während der Schamane durchaus auf unangenehme Weise für falsche Prognosen haftbar gemacht werden kann, kann sich der Visionär bei anders verlaufender Zukunft mit dem „Tentativen des Versuchs“ – wie ein neuhochdeutscher Pleonasmus lautet – herausreden. Die Vision ist letztlich eben doch nur von dieser Welt. So blieb von manchen Visionen der späten Neunzigerjahre wenig übrig, wie zum Beispiel vom Heilsversprechen der „Laptops im Schulranzen“, die ein „lebenslanges Lernen“ erleichtern würden.
Ein weiterer imponierdeutscher Leitbegriff ist die Innovation. Ursprünglich