Neues vom Tatort Tegel. Ingrid Noll
ihren weißen BH aus. Ich musste ganz schön schlucken, dabei machte sie das ganz sachlich, hinten aufhaken, den einen Arm durch den Träger und, schwupps, den anderen. Fertig. Ihre Brüste sind klein. Sie würden leicht in meine hohle Hand passen. Das ist wie füreinander gemacht, so eine Frauenbrust und eine leicht gewölbte Männerhand. Das hat die Natur so eingerichtet, dass alles zusammenpasst. Und fest sind ihre Brüste bestimmt auch, jedenfalls bewegten sie sich kaum, als sie sich vorbeugte, um den BH wegzulegen. Ich kann das beurteilen, ich gehe im Sommer viel ins Freibad. Ich bin, kann man sagen, ein Kenner.
Sie nahm aus ihrer Tasche einen dunkelroten BH, an dem noch das Preisschild baumelte. Da war ich echt verblüfft. So eine! Ich bin wirklich ein guter Beobachter, aber ich hatte im Kaufhaus nichts bemerkt. Ob sie da Routine hat? Bestimmt, dachte ich. Eine, die nicht oft klaut, ist so nervös, dass sie gleich auffällt. Da muss man ganz cool bleiben, ganz gleichgültig wirken, so als habe man überhaupt kein Interesse an irgendwas. Ich meine, so mache ich das ja auch, wenn ich mal Leuten hinterhergehe. Das fällt keinem Schwein auf.
Sie zog den BH an, aber nicht wie in den Videos. Sie machte den Verschluss vorne vor dem Bauch zu, drehte das Teil nach hinten und schlüpfte mit den Armen durch die Träger. Dann erst zog sie ihn richtig hoch und verstaute ihre kleinen Brüste in den Körbchen. So machen das die Frauen nämlich in Wirklichkeit! Einfach so, ohne großes Brimborium. Da lügen die Filme. Dabei ist das so doch viel aufregender, eben weil sie es so selbstverständlich macht, als wäre nix dabei. Für sie ist ja auch nix dabei, und sie kann ja nicht ahnen, wie aufregend das für einen Mann ist, der zuguckt. Da ist sie ganz unschuldig, da kann sie nix für. Das kann ihr keiner vorwerfen.
Sie drehte sich um und guckte über die Schulter, wahrscheinlich zu einem Spiegel, den ich nicht sehen konnte. Richtige Tanzschritte machte sie, ganz kleine, zierliche, auf der Stelle, vielleicht zu der Musik aus dem Radio, die ich nicht hören konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu tanzen. Sie nahm von irgendwo eine kleine Schere und schnitt das Preisschild ab, ohne den BH dafür auszuziehen. Aber ich war nicht enttäuscht. Ich war so fasziniert, dass ich kaum bemerkte, dass mir Papier und Tabakkrümel einfach aus der Hand gefallen waren. Scheiß auf die Zigarette!
Sie zog ihren dunklen Rock aus. Der Reißverschluss war links an der Seite, nicht hinten. Sie ging in eine Ecke und kam mit einer hellen Hose wieder an dieselbe Stelle, wo sie vorher gestanden und getanzt hatte. Wahrscheinlich ist das der beste Fleck im Zimmer, wo sie sich gut im Spiegel sehen kann. Sie trug einen weißen Tanga, so eine Art Nichts mit Spitze, ein winziges Dreieck vorne, um die Taille und hinten nur ein Faden wie Zahnseide. Im Freibad sind diese Dinger in diesem Jahr aus der Mode. Da waren die letzten Jahre besser.
Ihr Po beim Bücken, als sie in die Hose stieg! O Mann! Ich meine, im Freibad, die Mädchen wissen ja, dass alle zugucken, wenn sie sich zum Handtuch bücken, wenn sie aus dem Wasser oder von der Dusche kommen. Die wissen ganz genau, wie sie sich bewegen. Die wollen die Kerle anwichsen, ist doch klar. Aber wehe, man kommt ihnen dann wirklich zu nahe! Als ob man ein Triebtäter wäre oder so was. Einen anmachen und dann Ohrfeige, das macht den Weibern Spaß. Aber sie? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihr jemand zuschaut. Und trotzdem bewegte sie sich genau wie die Mädchen im Freibad. Sie ist einfach sexy, von Natur.
Sie probierte noch eine dunkle Hose, zog sie aber ganz schnell wieder aus und stieg wieder in die helle. Alles so, dass ich es ganz genau sehen konnte, nur von ein bisschen weit weg eben. Klar, das sind immerhin gut zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von hier bis ins Zimmer. Jedesmal, wenn sie den Reißverschluss hochzog, stieg sie auf die Zehen und zog den Bauch ein. Dabei ist sie doch schlank. Ob sie Sport treibt? Ich glaube, ihr Bauch muss ganz weich sein. Nachgiebig und doch auch fest und glatt wie Seide.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie streifte eine hellblaue Bluse über, knöpfte sie flink zu, zog dunkelgelbe Gardinen vor das breite Fenster und die Balkontür, und gleich darauf ging das Licht aus. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Regen setzte ganz leicht wieder ein. Alles blieb dunkel. Es war still im Wald. Das war schön, so allein im dunklen Wald. Der Niesel machte kaum Geräusch auf den Blättern. Ich war wie benommen, aber auch irgendwie glücklich. Ich nahm den letzten Bus in die Stadt.
Das war im vorigen Herbst, am 21. September, um genau zu sein. Das hätte ich mir nicht aufzuschreiben brauchen, das hätte ich mir auch so gemerkt. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Ein Tagebuch, ihr Tagebuch könnte man sagen, auch wenn sie nichts davon weiß. Ich sag mal: unser Tagebuch. Aber davon wird sie nie erfahren. Ich meine, ich zerreiße alles, was ich da reinschreibe, nach ein paar Tagen, damit es niemand findet. Aber dann habe ich schon alles im Kopf und kann es von Anfang bis Ende abrufen. Das ist aufregend, jedesmal neu, obwohl ich alles in- und auswendig kenne. Das ist wie bei den Videos oder DVDs, die ich immer wieder gucken kann, obwohl ich genau weiß, was im nächsten Moment passiert. Da kann man sich dann schon vorher drauf freuen. Früher habe ich manchmal schnell vorgespult, um an die richtigen Stellen zu kommen, so wie man sich in Büchern die richtigen Stellen sucht. Aber dann kriegt man den Film oder die Geschichte gar nicht als Ganzes richtig mit, eben nur die Stellen. Vielleicht weil der Film oder das Buch als Ganzes uninteressant sind, nur eben die bestimmten Stellen nicht. Das Tagebuch wiederhole ich mir immer ganz genau, Wort für Wort, aber manchmal ändere ich auch etwas, das mir nicht mehr so gefällt. Dann wird es noch aufregender.
Ich habe mir nach dem nächsten Ersten ein Fernglas gekauft, so ein kleines, lichtstarkes für die Jackentasche. Das ist gut. Ich bin ihr dann einfach näher, fast als wäre ich im Zimmer, nur der Ton fehlt. Eine gute Videokamera müsste man sich leisten können, aber die ist nicht drin. Außerdem bin ich nicht sicher, ob das wirklich so toll wäre. Ich finde, so mit Aufschreiben und abends wieder lesen, auswendig lernen und dann davon träumen und alles noch ein bisschen ausschmücken, das ist besser.
Überhaupt bin ich richtig professionell geworden, um es mal so zu sagen. Ich habe mir dunkle Klamotten besorgt, die stehen mir sowieso gut. Ich gehe immer einen etwas anderen Weg zu meinem Posten am Hang, damit ich keinen Trampelpfad zwischen den Holunderbüschen austrete. Meistens sowieso von der Autobahnseite her, da sieht mich erst recht keiner. Ich verstecke die Glut meiner Zigarette in der hohlen Hand, selbst wenn ich irgendwo anders bin, so sehr ist mir das in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß längst, wann die Kinder aus den Nachbarhäusern abends nach Hause müssen. Sie bekommen mich nicht zu sehen, aber ich weiß eine Menge über sie. Sie spielen gern in den Büschen, manchmal finde ich da Spielsachen von ihnen. Die lege ich dann auf meinem Heimweg unten an die Straße, damit sie sie finden und nicht in den Büschen danach suchen. Ich sammle meine Kippen immer sorgfältig ein, damit sie nichts spitzkriegen. Kinder sind schlauer, als man denkt. Außerdem würde das viele Nikotin den Büschen bestimmt schaden, wenn es durch den Regen ins Erdreich käme, könnte ich mir vorstellen.
So viel Glück wie am ersten Abend hatte ich bisher nicht wieder, aber irgendwas ist immer. Ich hab sie schon im Nachthemd gesehen oder wieder nur in Unterwäsche, alles so was, aber meistens sind das nur so Kleinigkeiten. Die würden niemand was bedeuten. Mir schon. Ich bin einfach froh, sie zu sehen, wie sie sich in ihrer kleinen Wohnung bewegt, sich ihr Abendbrot auf einem kleinen Tablett reinbringt, solche Sachen. Sie isst mit dem Tablett auf den Knien und sieht dabei die Tagesschau oder einen Vorabendkrimi. Wie Prinzessin Diana. Die hat auch mit dem Tablett auf den Knien ferngesehen, habe ich mal gelesen. Sie geht fast nie spät ins Bett, ich kriege immer noch den letzten Bus.
Sie heißt Kerstin Schmalstieg. Das steht am Klingelschild. Sie arbeitet in einer Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei ganz in der Nähe vom Amtsgericht. Freitags geht sie manchmal mit ein, zwei Freundinnen oder Kolleginnen nach der Arbeit ins Café Döhring. Dann sind sie sehr albern und lachen fast die ganze Zeit. Ich sehe das von draußen, weil ich mich nicht an einen Nebentisch setzen will, um zu lauschen. Das macht man nicht. Außerdem will ich nicht, dass sie mich bemerkt. Ich meine, bis jetzt hat sie mich nicht bemerkt – aber wenn sie mich bemerkt, also wenn sie irgendwie Verdacht schöpft, dann ist doch alles aus, oder? Dann zieht sie die Vorhänge zu. Ist doch klar. Ich meine, ich will ihr nichts Böses, echt nicht, ich will sie doch nur sehen und von ihr träumen. Ihr einfach ein bisschen nah sein. Aber sie würde sicher die Vorhänge zuziehen, das ist klar.
Einen festen Freund hat sie nicht. Darüber bin ich einerseits froh, andererseits auch nicht. Mit ihren Freundinnen geht Kerstin samstags in Discos, meistens ins