»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland. Werner Rosenzweig
Nun machten sie sich Händchen haltend auf den Weg in die Innenstadt zum Bahnhof. Derzeit bestand so gut wie keine Chance sich anderweitig zu sehen. Akgül hatte noch immer Hausarrest.
»Akgül«, begann Walter Fuchs, »das ist wirklich Scheiße, das mit deinen Eltern. Ich mein, meine ham sich auch gscheit aufgregt, aber das geht mir am Arsch vorbei, denen ihr Gwaaf. Bei dir ist das viel schlimmer. Dass dich dein eigener Bruder geschlagen hat, das ist eine Sauerei. Dem tät ich am liebsten eine in die Eier geben, dem Kümmeltürken. Oh, entschuldige, das ist nicht so gemeint. Was machen wir denn etzerdla? Du weißt doch, dass ich dich so gern mag. Ich tät dich doch am liebsten jeden Tag sehn. Das halt ich fei auf Dauer net aus, das mit dem Stubenarrest. Wie lang soll das denn noch gehn?«
»Kann nicht sagen«, antwortete Akgül seufzend und mit tränenfeuchten Augen, »mein Vater hat nix gesagt, wie lange dauert, und meine Bruder ständig passt auf mich auf. Musst wissen, ist arbeitslos, hat Zeit, und immer fragt: Wo du gehst hin?, Was du machst morgen?. Sagt, wenn ich will was unternehmen, ich soll Müselüm anrufen. Aber, glaub mir, ich nicht lieben Müselüm, ist kein guter Mann. Ich will nicht mehr sehen diese Mann. Ich lieben dich. Möchte auch den ganzen Tag sein bei dir. Aber Vater sagt, wenn nicht Schluss mit deutsche Freund, er mich schicken zurück in Türkei, nach Südostanatolien, zurück nach Urfa zu meine Großmutter. Und hat gesagt, dass er wird aussuchen eine türkische Mann für mich, der mich wird heiraten und Kinder machen. Walter, ich nicht will zurück nach Urfa, will bleiben hier bei dir. Türkischer Ehemann ist nicht gut, Südostanatolien auch nicht gut.«
»Wenn die dich in die Türkei zurückschicken, ich glaub, dann bring ich sie alle um«, stieß Walter Fuchs zwischen den Zähnen hervor. »Dann werd ich zur rasenden Wildsau. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten.«
»Nein Walter, darfst du nicht so denken, bringt nur Unglück. Vielleicht ist Hausarrest doch bald vorbei. Wir müssen haben Geduld. Auf jeden Fall ich will nicht mehr sehen Müselüm, lieber Hausarrest. Allah sei Dank, dass Vater und Kemal nicht haben gedacht an iPhone und wir uns immer noch schicken können Botschaft und Fotos. Lass uns beeilen, sonst Kemal schöpft Verdacht, wenn ich kommen zu spät nach Haus.«
Walters iPhone piepste. Er checkte den SMS-Eingang und schüttelte den Kopf.
»Sie dir schon wieder hat geschrieben wütende Botschaft?«, mutmaßte Akgül.
Walter Fuchs nickte nur und löschte die SMS. Irgendwann würde er seiner früheren Freundin den Hals umdrehen. Sie ging ihm zwischenzeitlich dermaßen auf den Sack, mit ihren ständigen Eifersüchteleien.
18
Müselüm Yilmaz war höchst verwirrt und immer noch zornig. Lange hatte er mit Akgüls Vater am Telefon gesprochen. Er hatte eine unbändige Wut auf diesen Deutschen, der ihm Akgül weggenommen hatte. Seine Akgül. Sie war ihm versprochen worden. Nun wollte sie nichts mehr von ihm wissen, hatte Ahmet gesagt. Lieber bliebe sie Jungfrau, hatte sie gesagt. Zumindest dieser Satz hatte in Müselüm eine gewisse Erleichterung hervorgerufen, denn er hatte die attraktive Akgül noch nicht aufgegeben. Er würde um sie kämpfen. Das hatte er sich vorgenommen. Aber dann erzählte ihm Ahmet Özkan, dass er mit den Gedanken spiele, seine ungehorsame Tochter gegebenenfalls in die Türkei zurückzuschicken. Nach Urfa zu ihrer Großmutter. Nach Urfa wollte Müselüm Yilmaz auf keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Was sollte er denn in diesem Provinznest am Arsch der Welt? Soweit würde seine Zuneigung zu Akgül nun auch wieder nicht gehen. Vielleicht lief ja etwas mit dieser Deutschen? Mit dieser Doris Kunstmann, die sich bei ihm telefonisch gemeldet hatte. »Der Walter, der dir die Akgül ausgespannt hat, war bis vor Kurzem mein Freund«, hatte sie ihm am Telefon erklärt, »und ich bin, genauso wie du, stinksauer auf ihn und deine Akgül. Insofern sitzen wir beide im gleichen Boot, wir sind die beiden Betrogenen. Und das stinkt mir gewaltig. Ich denke, die beiden sollten für ihre Untreue bezahlen. Deshalb rufe ich dich an. Was meinst du?«
»Kenne ich dich?«, wollte Müselüm von ihr wissen.
»Ich denke nicht«, kam die Antwort, »aber ich habe dich schon mal mit ihr in Erlangen gesehen. Ich weiß, wie du aussiehst. Hast du Zeit, Lust und Interesse, dass wir beide mal darüber reden?«
»Schon.«
»Okay, dann treffen wir uns am Samstagabend um acht in Erlangen, im Bogart‘s. Keine Sorge, ich spreche dich an, wenn du da bist.«
Sie hatte eine verdammt sexy Stimme am Telefon. Etwas rauchig. Erotisch war der bessere Begriff. Alter? Schwer zu schätzen. Er hatte den Eindruck, sie wusste genau, was sie wollte. Das gefiel ihm. Er würde da sein, am Samstag.
*
Während Doris Kunstmann im Bogart‘s auf Müselüm Yilmaz wartete, schlich ein junger Mann mit Rucksack durch die Büsche an der Plauener Straße in Zirndorf. Langsam tastete er sich in der Dunkelheit bis zum Zaun vor, der die Anlage für Asylsuchende umgab. Seine Stirnlampe wollte er nicht einschalten, um sich nicht selbst zu verraten. Er stand ganz still und lauschte den Geräuschen der Nacht. Menschliche Stimmen drangen gedämpft aus den Zelten jenseits des Zauns zu ihm herüber. Ausländische Stimmen, die er nicht verstand. Manche leicht dahin murmelnd, manche kräftig und fordernd. Aus dem dreistöckigen Wohnhaus auf seiner Seite des Zauns drang aus einem offenen Balkonfenster die Eingangsmelodie der Serie Die Zwei. In dem kleinen Wohnzimmer dahinter flackerte der unruhige Lichtschein des Fernsehbildschirms. Bernd Auerbach roch den modrigen Geruch der nassen Erde, auf der er stand. Der Boden war noch mit dem Laub vom letzten Jahr übersät. Er stand weich, wie auf mehreren dünnen Teppichen. Fremdländische Essensgerüche aus den Zelten wehten herüber und vermischten sich mit dem Geruch der modrigen Erde. Das Buschwerk, in dem er sich verbarg, war noch von der Feuchtigkeit des letzten Regens benetzt. Nach weiteren fünf Minuten des stillen Wartens, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, legte er seinen Rucksack geräuschlos und vorsichtig auf die feuchten Blätterschichten. Er öffnete ihn, griff hinein und holte die drei Transportbehälter mit den todbringenden amerikanischen M61-Splitterhandgranaten heraus. Immer wieder lauschte er in die Finsternis. Jenseits des Zauns unterhielten sich die Menschen in ihren Zelten weiterhin in ansteigenden und abflachenden Tonlagen. Ein Kleinkind begann zu weinen. Irgendwo im Gebüsch neben ihm regte sich etwas. Eine fette Kröte kroch unter einem tiefhängenden Zweig hervor und machte sich gemütlich davon. Mit Bedacht und Routine nahm er die drei Handgranaten aus ihren Behältern und legte sie vor sich auf das feuchte Blattwerk. Die Transportbehälter steckte er wieder in den Rucksack zurück. Die Sprengkörper schimmerten matt und bedrohlich im gedämpften Widerschein, der aus den drei Zelten auf der anderen Seite herüberdrang.
Bernd Auerbach hatte sich die Fotos, die seine Freundin wenige Tage zuvor gemacht hatte, ganz genau eingeprägt. Auch das Firmengelände eines Honda-Händlers ganz in der Nähe, Ecke Brandstätterstraße/Zwickauerstraße, hatte sie ausgekundschaftet. Die langgezogene Halle sah nicht so aus, als ob sie ausreichend gegen Einbrecher geschützt sei. Videokameras waren jedenfalls nicht zu erkennen. Er hatte nicht vor, nach seiner Tat das Gebiet sofort zu verlassen. Zu nah lag die Polizeiinspektion Zirndorf. Er musste damit rechnen, dass die Bullen – trotz Notbesetzung während des Wochenendes – sehr schnell am Tatort eintrafen und Straßensperren errichteten. Er hatte keine Lust, den Polizeibeamten in die Arme zu laufen. Nein, er würde ganz in der Nähe bleiben und sich bis zum Sonntagabend auf dem Gelände des Honda-Händlers verstecken. Eine Flasche Cola und vier belegte Brote steckten ebenfalls in seinem Rucksack. Das reicht bis Sonntagabend. Wer würde damit rechnen, dass der oder die Täter noch in der Nähe waren? Niemand. Sie würden hier niemals nach ihm suchen. Ein genialer Plan, den sie sich zuhause ausgedacht hatten, Anna und er. Bernd Auerbach sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Noch dreißig Minuten. Konzentriert befasste er sich in Gedanken nochmals mit dem Entsichern und Werfen der Handgranaten. Das war der Knackpunkt. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es musste alles sehr schnell gehen. Zwar hatten die Explosivkörper einen eingebauten Zeitstempel, aber mehr als acht bis zwölf Sekunden zwischen Zündung und Explosion blieben ihm nicht. Der Splitterradius dieser Defensivwaffen war größer als die Wurfreichweite. Um selbst nicht Opfer seiner Handgranaten zu werden, musste er spätestens nach acht Sekunden um die Ecke des