»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland. Werner Rosenzweig

»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland - Werner Rosenzweig


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für Asylsuchende. Die erste schlug gegen den schweren Stoff des mittleren Zeltes, federte etwas zurück, fiel mit einem satten Geräusch auf den Rasen und blieb dort liegen. Die zweite Granate schrammte Sekundenbruchteile später gegen die Außenwand eines der Wohnhäuser, prallte mit einem lauten metallischen Klacken, welches vom heftigen Wind verschluckt wurde, von der Mauer ab, sprang auf dem schrägen Dach des nebenstehenden Zeltes auf, rollerte von dort auf die Erde und beendete ihren Weg direkt vor dem Zelteingang. Die dritte schließlich wurde nicht geworfen. Sie kullerte an das am nächsten stehende Zelt, gleich am Zaun. Zehn Sekunden, nachdem Bernd Auerbach die drei Handgranaten auf ihren tödlichen Weg gebracht hatte, war er bereits auf der anderen Seite der Plauener Straße angelangt und setzte seinen Spurt zum nahen Gelände des Honda-Händlers fort. Die Explosionen wüteten in seinen Ohren, aber für ihn klang es wie Musik. Die scharfen Metallsplitter der Waffen zerrissen die Zeltwände wie Papier und fuhren wie brennende Furien in das Innere der behelfsmäßigen Unterkünfte. Stofffetzen und die kläglichen Überreste der Zeltstangen flogen in einer dichten Explosionswolke auseinander. Die dicken Splittermäntel der drei Wurfgeschosse zerbarsten von der Wucht der Detonationen an ihren Sollbruchstellen, und die freigesetzten, scharfkantigen Metallteile drangen mit einer immensen Gewalt in die Leiber der Männer, Frauen und Kinder, welche sich innerhalb der Zelte aufhielten. Der Tod wütete unter den Asylbewerbern und hielt reiche Ernte. Schwerverletzte, denen Gliedmaßen abgerissen wurden, begriffen im ersten Moment nicht, was geschehen war. Sie standen unter Schock, sahen verständnislos an ihren blutigen Armstümpfen herab. Überlebende trugen ausnahmslos schwere Verwundungen davon. Orientierungslos rannten sie, sofern sie dazu noch in der Lage waren, aus ihren zerstörten Unterkünften heraus. Sie stolperten über die Reste ihrer wenigen Habseligkeiten, über zerfetzte Leiber und rutschten auf den am Boden liegenden Eingeweiden aus. Ein lautes Wehklagen setzte ein, nachdem sich der erste Rauch der Explosionen verzogen hatte. Verwundete brüllten ihren Schmerz in die Nacht. Bäche von Blut breiteten sich auf dem Asphalt aus. Selbst die Wand des nahestehenden Wohnblocks war bis hinauf zum ersten Stockwerk mit Blutspritzern besprenkelt. Die Nacht hatte ihre Unschuld verloren, und das Sterben ging immer noch weiter. Für die meisten Schwerverletzten kam jede Hilfe zu spät. Endlich, nach einer knappen Minute, löste sich die Erstarrung, welche durch den Knall und die Wirkung der Explosionen ausgelöst wurde. Plötzlich setzte hektische Betriebsamkeit ein. Die ersten Bewohner des nächsten Wohnblocks stürmten nach draußen, um zu ergründen, was vorgefallen war. Sie sahen sich irritiert um. Anhaltende Schmerzensschreie und Hilferufe drangen von allen Seiten an ihre Ohren. Die meisten kapierten noch gar nicht, was geschehen war. Viele liefen wieder in ihre Wohnungen zurück und trugen schwere Stablampen herbei. Die gespenstischen Bilder und Szenen, die sich draußen abspielten, ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Das blanke Grauen stieg ihnen die Kehlen hoch. Zuckende Lichtkegel fuhren unkontrolliert über riesige Blutlachen, abgerissene Körperteile, Verwundete und Tote. Sie mussten den Anblick erst verarbeiten. Viele erlitten einen Schock und standen zunächst wie gelähmt herum. Dann, allmählich, begriffen sie, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, und einige Wenige lösten sich aus ihrer Lethargie. Andere brauchten länger, starrten lediglich auf den Ort der Verwüstung und nahmen immer noch mit entsetzten Gesichtern und zitternden Körpern das Grauen in sich auf. Noch verweigerten ihre Gehirne zu verarbeiten, was ihre Augen sahen. In ihren Köpfen fielen tausend Sperren. Lediglich aus ihren Mündern strömten bestialisch klingende, unkontrollierbare Wehlaute in die Nacht. Diejenigen, welche ihren Schock schneller überwinden konnten, griffen hektisch zu ihren Mobiltelefonen und gerieten in einen Sog konfuser Gespräche. Jeder versuchte, den anderen an Lautstärke zu überbieten. Plötzlich setzte der Regen ein. Heftig und überraschend. Dicke Regentropfen schlugen in den Blutlachen der Toten und Verletzten Blasen. Der nun orkanartige Wind trieb immer weitere tief segelnde, dicke Regenwolken von West nach Ost über Zirndorf hinweg. Alle Höllendämonen der Nacht schienen in Aufruhr geraten zu sein. Der Himmel weinte und ergoss seine kalten Tränen über das Gelände der Verwüstung und des Todes. Die Menschen dort waren in wenigen Sekunden nass bis auf die Knochen. Doch das scherte sie nicht. Zu groß waren der Schmerz und das Unheil, die über sie gekommen waren. Noch immer suchten sie nach Bekannten und Freunden, welche in den Zelten untergekommen waren.

      Ganz in der Nähe jagte das erste Martinshorn sein lautes Tatüütata durch die stürmische Dunkelheit und kämpfte gegen das Gebrüll und das Tosen des Orkans an. Ein blauer Lichtschein rotierte in wilden, regelmäßigen Zuckungen und wurde von den Hauswänden gespenstisch zurückgeworfen.

      Polizeihauptmeister Max Kruse stoppte den Streifenwagen, als eine schreiende, wild gestikulierende Menschenmenge auf das Polizeifahrzeug zulief. Der Geräuschpegel drang gedämpft durch die verschlossenen Pkw-Türen und vermischte sich mit den jaulenden Tönen des eigenen Martinhorns. Die ersten Blitze zuckten bereits ganz in der Nähe, und der unmittelbar einsetzende Donner hörte sich an, als spielte Petrus im Himmel Bowling. Die Erde schien aus ihren Fugen geraten zu sein. Kruses Kollege Gerhard Dillich schnallte sich ab, zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Halsansatz hoch, öffnete die Beifahrertür und stürzte murrend ins Freie. Sofort war er von der aufgeregten Menschenmenge umstellt, die ihm in einem Wirrwarr an Fremdsprachen – so zumindest empfand es der Polizeibeamte – versuchte, etwas mitzuteilen. Weinende, triefnasse Menschen schrien ihren Schmerz in die Dunkelheit. »Gucken, hinter Haus, viele Tote«, schrie ein in seiner Nähe stehender Dunkelhäutiger. »Viel Blut, Kinder auch tot.« Er deutete in Richtung der Umzäunung. Ein heulender, in blaue Zuckungen getauchter Sanka des Bayerischen Roten Kreuzes fuhr um die Ecke und kam hinter dem Polizeifahrzeug zum Stehen. Sofort stürzten sich die verzweifelten und schockierten Asylbewerber auch auf das zweite Fahrzeug.

      »Platz machen! Auf die Seite«, bemühte sich Gerhard Dillich wild gestikulierend um ein Durchkommen. Die dicken Regentropfen sausten wie wild gewordene Hummeln auf seinen ungeschützten Hals und liefen ihm in kleinen Bächen den Körper hinab. Seine olivfarbene Hose war bereits bis zu den Knien hinauf patschnass. Ein Sanitäter leistete ihm Hilfestellung. Gemeinsam gelang es den beiden, die wilde Horde so von den beiden Einsatzfahrzeugen abzudrängen, dass ein schmaler Weg zur Weiterfahrt frei wurde. Vorsichtig steuerte Max Kruse den Streifenwagen durch die Menschenansammlung. Der Sanitätskrankenwagen folgte ihm. Die Reifen der Fahrzeuge krochen knirschend über Glasscherben – Reste von Fensterscheiben, die durch den Druck der Detonationen aus ihren Rahmen geplatzt waren und nun über einem Teil des Hofes verstreut im Regenwasser herumlagen. Der Regen hämmerte weiter in die riesigen Pfützen auf dem welligen Asphalt.

      Auch drüben, jenseits des Maschendrahtzaunes der Asylantenaufnahmestelle – dort, wo noch vor Kurzem der Attentäter seine Handgranaten gezündet hatte –, herrschte trotz des heftigen Regens ebenfalls eine rege Betriebsamkeit. Die Anrainer und Bewohner des nächstgelegenen Wohnhauses, deren nach Westen gelegene Fenster nur noch aus dunkel gähnenden, offenen Löchern bestanden, hatten sich dicht gedrängt am Zaun versammelt und glotzten unter einem Meer von bunten Regenschirmen heftig diskutierend auf das Gelände des Asylantenheims hinüber. Oben auf einigen der Balkone standen andere Hausbewohner mit schweren Taschenlampen bewaffnet und bemühten sich verzweifelt, mit ihren Lichtquellen den nächtlichen Regen zu durchdringen. Immer mehr Nachbarn aus der näheren Umgebung trafen ein, gesellten sich zu den Schaulustigen am Zaun und wollten aufgeregt wissen, was da drüben bei den Asozialen passiert war. Ein weiteres Einsatzfahrzeug fuhr auf den Hof. Wenig später begannen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks drei starke Halogenscheinwerfer in Betrieb zu nehmen, welche kurz darauf die Szene gespenstisch ausleuchteten. Nun sah man den Regen, der in langen, schrägen Strichen auf die Erde prasselte, sich mit den Blutlachen vermischte und diese in den nächsten Gully spülte. Sanitäter in schweren Regenjacken trugen hastig Bahren und Leichensäcke über das Gelände und suchten verzweifelt nach Verwundeten und Überlebenden.

      »Jetzt sehen wir wenigstens etwas. Das hat vielleicht einen Schlag gegeben«, erklärte Illona Seitz den Herumstehenden, »drei Mal kurz hintereinander. Ich war grad auf dem Abort gsessen, als die Fensterscheibe in meinem Bad in tausend Stücke zerscheppert ist. Da, schaut nur her, da am Hals hat mich eine Scherbe getroffen. Geblutet hab ich wie eine Sau.” Illona Seitz deutete auf die Stelle ihres Halses, wo nun ein kleines Wundpflaster klebte. »Da denkst du an nix Böses, sitzt am Abort und plötzlich fliegt dir das halbe Haus um die Ohren. Da machst du was mit, bis du alt und grau wirst. Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte sie schließlich wissen.

      »Ein


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