Erstflug. Matthias Falke

Erstflug - Matthias Falke


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Sie waren Einzelkämpfer in einer Legebatterie des Geistes, in der es nur um eines ging: die Hervorbringung des Produkts. Wenn die Besucher kamen und sie an der Reihe waren, nuschelten sie ihren Text herunter, klickten sich viel zu schnell durch die immergleiche Präsentation und verabschiedeten sich dann, die Herren und Damen internationaler Großkonzerne den Hostessen überlassend, die mit Sekt und Canapées bereitstanden.

      Er hatte die Runde geschlossen, sog noch einmal die würzige Luft dieses Tages ein, von dem er wusste, dass er in seinem Gedächtnis nun ein für allemal einrasten und stehen bleiben würde, und ging dann durch die Pforte. Der Türöffner reagierte auf den Chip in seinem Handgelenk. Der menschliche Wachmann salutierte und nickte ihm freundlich zu. Er mochte ihn. Manchmal tranken sie abends ein Bier zusammen an der kleinen Bar unten im Freizeitkeller. Auch die beiden Türsteher-Droiden sonderten ihre simplen Sprüche ab. Es waren Jahrmarktroboter, billige Blechgehäuse mit primitiver Personenerkennung und ein paar einfachen Protokollfunktionen. Die Geschäftsführung liebte sie, und die Gäste ließen sich bereitwillig davor fotografieren. Als Ausweis der Expertise, die in diesem Gebäudekomplex versammelt war, waren die Dinger eigentlich eher kontraproduktiv. Sie hatten die Leitung immer wieder einmal darauf aufmerksam gemacht. Aber es hatte nichts gefruchtet. Das Management hatte seine eigenen Vorstellungen und wich von ihnen nicht ein Jota ab.

      Manchmal fragte er sich, ob die Oberen überhaupt eine Vorstellung davon hatten, was sie herstellten, an was sie arbeiteten. Konnten diese Herren in den teuren Anzügen und die Damen in den schicken Kostümen begreifen, was für einer Unternehmung sie vorstanden? Es ging nicht um die Details. Die verstanden sie sogar untereinander nur zum kleinsten Teil. Es ging um das Grundsätzliche. Ihm schwindelte ab und zu, wenn er ein wenig Abstand nahm, beim Gang am Zaun entlang oder abends an der Bar. Es hatte Momente gegeben, da es ihm unheimlich geworden war. Und spät nachts, nicht nach dem ersten Bier, aber vielleicht nach dem dritten oder fünften (und noch ein paar Tequila dazu!), hatte auch der eine oder andere Kollege ihm gestanden, dass er diese Empfindungen kenne und teile. Den Oberen war das ganz gleichgültig. Für sie war es nur ein Produkt. Das wollten sie verkaufen. Sie verkauften es umso eifriger, als es noch nicht fertig war und kein Mensch wissen konnte, ob es jemals fertig werden würde. Ob es überhaupt und prinzipiell möglich war! Natürlich gab es Abfallprodukte, Vorprodukte, Teilprodukte. Sie spielten Milliarden ein. Aber das war nicht das, worum es hier eigentlich ging.

      Er kehrte an seinen Platz zurück und warf den ungeöffneten Brief achtlos auf seine Arbeitsfläche.

      Die Kollegen waren natürlich neugierig geworden. Schon der Auftritt des Zustellers in der Uniform des staatlichen Postdienstes! Und dann das pompöse Ritual des dreimaligen Abzeichnens! Sein Unterarm war gescannt worden, um seine Identität zweifelsfrei sicherzustellen. Jetzt steckten sie die Köpfe durch die schallschluckenden Zwischenwände aus künstlich komprimierter Luft und glotzten ihn fragend an.

      »Was ist das?«, brachte einer hervor.

      Er grinste, nahm den Umschlag wieder von der auf Stand By verharrenden Konsole, wedelte durch die Luft damit und ließ ihn in seiner Umhängetasche verschwinden.

      »Meine Kündigung«, sagte er dann.

      Den Rest des Tages ließen sie ihn in Ruhe. Sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass sie nichts aus ihm herausbekommen würden. Der eine oder andere mochte für sich zwei und zwei zusammenzählen.

      Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Jetzt nur keine Panik aufkommen lassen! Nicht anfangen zu grübeln und sich in den Konsequenzen verzetteln, die das nach sich ziehen würde. Alles würde sich fügen. Im Lauf des Nachmittags kam er wieder in einen solchen Flow, dass er den Brief vollkommen vergaß. Am Abend erinnerten ihn die Blicke der Kollegen, an deren Spalier er sich zu den Unterkünften kämpfen musste, dass etwas geschehen war. Er ignorierte es nach Kräften, passierte die hintere Sicherheitsschleuse, die den Hochsicherheitstrakt des eigentlichen Arbeitsbereichs vom Rest des riesigen Gebäudekomplexes trennte, und stieg ins Basement hinunter, wo die Zimmer und die Freizeiteinrichtungen waren.

      Die Oberen wohnten außerhalb, in den umliegenden Dörfern, wo die Firma ihnen Appartements angemietet oder Häuser gekauft hatte. Sie fuhren abends mit ihren Scootern dort hinaus oder wurden von ihren Chauffeuren abgeholt. Die Freizeit verbrachten sie mit ihren Frauen und Kindern auf ihren Anwesen mit grünen Vorgärten und blauen Pools.

      Die Programmierer wohnten in der Fabrik. Die Treppe hinunter gab es ein weitverzweigtes Labyrinth von Unterkünften, Sport- und Fitnessräumen, Kinos und Bars. Man konnte schwimmen gehen, auf der Trainingsmaschine ein paar Kilometer laufen oder sich massieren lassen. Nach der schweren geistigen Arbeit des Tages wäre das sogar vernünftig gewesen. Aber den meisten stand der Sinn nicht nach derartigen Zerstreuungen. Sie gingen nach der Schicht direkt in einen der Vorführsäle und ließen sich das neueste Holo-Spektakel präsentieren, um anschließend an einer der Bars über die Spezialeffekte zu fachsimpeln, oder sie hingen in einer der Lounges ab, wo Musik dröhnte und auf den Bildschirmen Sexvideos und Sportübertragungen liefen.

      Er ging, wie jeden Tag, zuerst auf sein Zimmer. Ein schmaler fensterloser Raum mit einem Bett, einem Tisch und einem Spind sowie einem eigenen Bad. Er duschte und legte sich dann eine Stunde flach auf seine selbstjustierende Matratze, die die Verspannungen in seinem Nacken und seinen Schultern registrierte und durch Vibrationen aufzulockern versuchte. Dabei hörte er leise klassische Musik.

      Er öffnete den Brief, in dem nichts stand, das er nicht erwartet hatte. Allenfalls wunderte ihn der lakonische Ton. Es waren wirklich nur drei Sätze. Und immer noch fragte er sich, warum es so lange gedauert hatte!

      Dann ging er hinüber in seine Lieblingsbar. Er schwang sich auf den Hocker und lehnte sich über die Theke. Das Mädchen stellte unaufgefordert ein Bier vor ihn.

      »Hawaii oder Mexikana?«, fragte sie.

      Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass ihm das egal war.

      »Dann gibt’s Hawaii«, erklärte sie. »Mexikana hab’ ich sowieso nicht da.«

      »Wieso fragst du dann?«, gab er zurück. Schlagartig spürte er, wie müde und ausgebrannt er war. Das Sprechen strengte ihn an.

      »Um dich zu ärgern«, sagte sie. »Ich weiß doch, dass du dich nicht gern entscheidest.« Und sie äffte ihn nach, der schlaff und groggy über der Theke hing und etwas vor sich hinnuschelte, das klang wie: »Miregal, macheinfachirgnwas!«

      »So schlimm?« Er musste schmunzeln. Das kalte Bier tat gut. Es klärte seinen Kopf, der von zu vielen Dingen voll war. Der Alkohol entspannte augenblicklich und hob seine Stimmung.

      Sie zwinkerte ihm zu und kümmerte sich dann um die Mikrowelle, die den Fraß für ihn aufwärmte.

      Trixi arbeitete tagsüber oben als Hostess. Sie begleitete die Besuchergruppen, reichte ihnen Häppchen und ließ sich von den Männern in den Ausschnitt kucken. Da sie im Komplex wohnte, besserte sie ihr karges Salär damit auf, dass sie abends noch an einer der kleinen Bars bediente. Sie war ja sowieso da. Sie war hübsch. Klein und zierlich. Spielte die Rolle des schnippischen Dummchens gerade so gut, um für die desinteressierten Programmierer überzeugend zu wirken. Es hieß, dass sie hin und wieder mit dem einen oder anderen ins Bett ging. Sie nahm Geld dafür, aber ihr Tarif richtete sich danach, wie sympathisch ihr jemand war. Umsonst machte sie es nie, schon aus Prinzip.

      Natürlich hieß sie nicht Trixi. Das war ihr Künstlername. Wie ja auch die KI-Spezialisten ihre eigenen Nicknames hatten, unter denen sie ihre Programme schrieben.

      »Ich höre, du hast Post bekommen, Laertes?!«

      Sie betonte das Wort, als könne nichts anderes als eine Unanständigkeit dahinter stecken.

      »Einen Brief?«

      »Und wenn schon«, grinste er.

      Er mochte sie. Irgendwie, bildete er sich ein, schäkerte sie anders mit ihm als mit den anderen. Vermutlich lag es daran, dass er sie nie gefragt hatte. Sie hatte es auch nie darauf angelegt. Sie wusste, dass er vergeben war.

      »Ich habe noch nie einen Brief bekommen«, sagte sie mit künstlichem Schmollen.

      Inzwischen


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