Erstflug. Matthias Falke

Erstflug - Matthias Falke


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Er ging zur Rezeption und mietete das beste Zimmer des Hauses für zwei Nächte. Vielleicht würde er nur eine davon in Anspruch nehmen. Das hing davon ab, was für eine Verbindung er finden würde. Aber es kam nicht darauf an. Er hatte es immer so gehalten. Das erste Haus am Platze, die teuerste Suite. Geld spielte keine Rolle, ob die Firma zahlte oder ob es privat war. Er verdiente zwar nicht annähernd so viel wie Gallagher oder die Leute, die noch über ihm standen. Aber er hatte andererseits auch nie Gelegenheit gehabt, sein Geld auszugeben. Keine Familie, kein eigener Wohnsitz, keine Hobbies. Die Wochenenden mit Kathy waren das einzige. Aber wenn es acht im Jahr waren, war es viel. Im Bunker, wie sie den Gebäudekomplex von AIRC nannten, zahlte alles die Firma, auch die Unterkunft, den Kaffee und die Mikrowellenpizza. Nach bürgerlichen Gesichtspunkten war er ein wohlhabender Mann. Die Firma hatte gute Anlageberater! Aber das hatte ihn eigentlich nie interessiert. Geld war soviel wert, wie man sich dafür kaufen konnte. Was das anging, war er in all den Jahren bedürfnislos gewesen.

      Ein Mädchen in ländlicher Tracht brachte ihn auf sein Zimmer. Dafür, dass es nur ein Gasthof war und kein Hotel, war es beinahe luxuriös. Ein ungewöhnlich großes Doppelbett, davor der nicht weniger riesige interaktive Schirm. Die Tür zum Bad stand offen, das die Grundfläche des Wohnraums noch zu überbieten schien. Er erkannte einen Whirlpool und eine Zweipersonen-Sauna, außerdem ein Fahrradergometer. Das ganze Etablissement war auf ein älteres, wohlhabendes Publikum berechnet, das hier den Nachsommer verbrachte, in den nahen Bergen wandern ging und die Abende ausufernden Weinproben und den Kreationen der Sterneköche widmete.

      Er danke dem Mädchen und steckte ihm einen Zehner zu. Dann fiel ihm noch etwas ein.

      »Würden Sie mir etwas gegen Kopfschmerzen bringen?«

      Sie nickte und lief die Treppe hinunter. Als sie wiederkam, hatte er die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Bett ausgestreckt. Sie kredenzte ihm die Tablette in einem Glas sprudelnden Wassers, als handele es sich um eine Jahrgangsauslese. Dabei musterte sie ihn mit einem mitfühlenden Blick.

      »Der Föhn?«

      »Das auch.« Er leerte das Glas in einem Schluck. Prickelnde Kälte explodierte in seinem Magen. »Wir haben gestern gefeiert!« Eine kreisende Bewegung der Hand auf Höhe seiner Schläfen sollte seinen Zustand verdeutlichen.

      »Was haben Sie gefeiert?«, fragte sie.

      »Meinen Ausstand.«

      »Sie sind von der Firma«, riet sie. »Die die Roboter bauen.«

      »Wir programmieren sie«, korrigierte er sie sanft. »Gebaut werden sie woanders.« Das eine entsprach der Wahrheit zwar ebenso wenig wie das andere, aber irgendwie fand er Gefallen an der kleinen Unterhaltung.

      »Wurden Sie gekündigt?«

      »Ich habe meinen Abschied eingereicht.«

      »Oh!« Die Kleine staunte. Das musste man sich leisten können, soviel war ihr klar. »Und – was machen Sie jetzt?«

      »Ausspannen.« Er überlegte. »Vorträge. Übermorgen muss ich nach Hawaii.«

      »Das ist ja aufregend!« Sie legte den Finger an den Mund. »Soll ich Ihnen eine Verbindung heraussuchen.«

      »Das schaffe ich schon selber. Vielen Dank!« Er sah sie an. »Waren Sie mal dort?«

      »Um Gottes Willen!«

      »Zwei Stunden.« Er hob die Schultern, wohl wissend, dass das eigentlich nicht seine Art war. Der Brief musste etwas mit seinem Serotonin gemacht haben.

      »Das ist nicht der Punkt«, sagte das Mädchen altklug. »Ein solcher Flug kostet mehr, als ich hier im ganzen Jahr verdiene.«

      Das mochte sein. Über solche Dinge hatte er nie nachgedacht.

      »Entschuldigen Sie bitte. Das war gedankenlos.«

      »Nein, ist schon gut.«

      Sie stand da und sah ihn an; Er spürte, wie der Kopfschmerz sich in seinen Winkel zurückzog wie ein eingeschüchtertes Tier in seinen Bau. Auch das mochte zu seiner übermütigen guten Laune beitragen. Er überlegte, ob er sie einfach einladen sollte, ihn zu der Tagung zu begleiten. Sie war nett. Wie sie dastand und den Impuls unterdrückte, sich auf die Bettkante zu setzen, während ihre Aufmerksamkeit immer wieder zur offenen Tür stolperte, von der leise die Geräusche des Treppenhauses und der Rezeption, drei Stockwerke weiter unten, drangen.

      Jones wäre ihr jetzt an die Wäsche gegangen.

      Laertes schickte sie weg.

      »Vielen Dank. Wenn ich noch etwas brauche, lasse ich es Sie wissen.«

      Sie knickste förmlich. Dann schloss sie die Tür. Er hörte noch die Schritte ihrer schwerer Holzcloggs, die sich die Wendeltreppe nach unten tasteten.

      Er lag eine Weile da und betrachtete die Decke. Dann setzte er sich auf. Er aktivierte den Schirm. Es gab täglich mehrere Verbindungen nach Lihue, direkt oder mit Zwischenlandung in Newark oder Atlanta. Ein erstes Durchscrollen ergab, dass überall noch Plätze frei waren. Er nahm davon Abstand, sich jetzt schon festzulegen und ein Ticket zu reservieren.

      Dann sah er auf die Uhr. Eine Stunde Zeitverschiebung: Das hieß: Sie hatte jetzt gerade Mittag. Er atmete tief durch und pingte ihre Nummer an.

      Die Leitung wurde sofort freigegeben. Wie er vermutet hatte, saß sie bei Tisch.

      »Ungewohnte Zeit«, sagte sie nur.

      Sie hatte ein Display neben dem Ess-Tablett erzeugt, auf dem sie ein Fachjournal studierte. Sie legte die Hand darauf. Die Anzeige erlosch. Dann sah sie ihn an.

      »Mahlzeit«, brachte er hervor.

      Sie sah umwerfend aus. Obwohl für gewöhnlich rot ihre Farbe war, brachte auch der weiße Kittel ihr schwarzes Haar und den blassen Teint gut zur Wirkung. Ihre Augen, aus denen das Störrische nur selten wich, das Eigensinnige. An den Wochenenden brauchte es meist den ganzen ersten Abend, viel Champagner und noch mehr Küsse, um das Harte zu mildern, das in ihren Augenwinkeln und auf ihren Lippen war. Auch jetzt war ihr Blick streng und ein bisschen ungeduldig, als sei er in die Ordination geplatzt.

      »Danke.« Sie stocherte in ihrem Salat herum. »Was – gibt’s?«

      »Ich wollte mich einfach mal wieder melden.« Lügen war noch nie seine Stärke gewesen.

      Sie fiel auch nicht eine Sekunde darauf herein. Mit vollen Backen kauend, dass er das Krachen der Salatblätter und Paprikascheiben bis zu sich hörte, sah sie ihn an und musterte dann die Umgebung, soweit sie bei der Übertragung mit ins Bild kam.

      »Wo bist du da überhaupt?«

      »Ein Gasthof, im Ort«, sagte er schnell.

      »Aha?«

      Sie schob eine weitere Gabel in den Mund und spähte unverhohlen nach der Uhr.

      »Ich musste mal raus.«

      »Laertes.«

      »Ich.« Er hatte nicht erwartet, dass es so schwierig werden würde.

      »Hast du etwas ausgefressen?«, fragte sie mütterlich. »Du hast doch nicht gekündigt? Oder haben sie dich rausgeschmissen.«

      »Sie haben mich nicht rausgeschmissen«, beeilte er sich zu sagen.

      »Was ist dann passiert?« Sie schob das Tablett weg, obwohl der Teller kaum zur Hälfte geleert war, und trank einen Schluck Wasser. Dann sah sie wieder nach der Uhr.

      »Laertes«, sagte sie. »Ich muss dann wieder. Worum geht es denn?«

      »Das ist es ja!« Er ertappte sich dabei, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Ich würde gerne richtig mit dir reden. In Ruhe und unter vier Augen. Nicht so!«

      Sie sah ihn nur an. Im Hinterkopf ging sie ihre OP-Termine durch.

      »Können wir uns sehen?«, fragte er.

      »Die Woche ist es schlecht«, sagte sie rasch. »Jeden Tag zwei, drei komplizierte Sachen. Da muss ich mich konzentrieren. Am Wochenende Bereitschaft.«


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