Vampirnovelle. Frank Hebben
im Konferenzraum, übermüdet, verkatert, aufgekratzt; die Augen entzündet vom ständigen Schlafentzug, der sie gefügig macht: eine Foltermethode. Was ist bitte so furchtbar wichtig?, wird mich ihr Leitwolf fragen. Wir haben Samstag! Bei dem Gedanken blecke ich die Zähne.
Wie?, herrsche ich sie an.
Sie haben da einen Fleck, am Kragen: Ist das Blut?
Nein.
Die Sekretärin nickt.
Die Unterlagen, rufe ich, und sie zieht den Kopf ein. Aber natürlich. Bitte entschuldigen Sie.
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Sie bringt mir zwei Aktenordner und zieht hinter sich die Tür zu; endlich allein. Muss nachdenken. Drehe den Sessel, um auf die Großstadt hinauszublicken: hoch oben dieser warme, gedämpfte, goldene Schein eines Nachmittags, der langsam verblasst. Die Schatten der Häuser, Autos wie Käfer, unten. Ich fühle mich besser. Leicht. Stark. Es geht um Präsenz! Ich beuge mich vor, nutze die Gegensprechanlage:
Rufen Sie mir ein Taxi.
Aber, Sie haben doch ein Meeting …
Stornieren Sie das.
Wie Sie wünschen, Herr –
Habe den Knopf losgelassen.
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Sonnenuntergang um 16:41 Uhr, täglich geprüft wie Aktienkurse: Gleich wird die Beklemmung von mir abfallen. Gut gelaunt, den Schlüssel klimpernd in der Hand, steige ich die Treppen hoch; schön, wieder hier zu sein, bei ihnen – doch am Türrahmen klebt ein Zettel:
Dein Problem!
Wir sind feiern.
Ruth & Jo
Öffne … Dieses Frösteln im Nacken, weil ich weiß, was mich erwartet: Ich straffe die Schultern. Hallo?
Hallo, sagt sie.
VIER
Das Bad ist geräumig und modern, mit dem geschmacklosen, verschimmelten Duschvorhang: Palmen am Strand, den ich ruckartig wegzerre. An einer Handschelle unser Taxifahrer, sein Kinn hängt auf der Brust, das Gesicht ist zerschlagen; um die vierzig, womöglich geschieden, zahlt Unterhalt oder ein Haus ab. Hat zwei oder drei Kinder oder Hunde. Kein Katzentyp. Grillt gerne saftige Steaks mit den Kumpels, im Sommer, jeden Freitag am Badesee. Hat eine tiefe Stimme, vom Rauchen; hat vielleicht früher in einer Werbeagentur gearbeitet, zu Studentenzeiten, und dann die Schule des Lebens: Alkohol und Einsamkeit; und manchmal sitzt er allein am Hafen und schaut den Frachtschiffen nach. Heute wird er sterben. Hätte er ein anderes Leben gelebt, wenn er das geahnt hätte? Nein.
Er stöhnt.
Dein Begrüßungsgeschenk. Ich öffne die Hand zur einladenden Geste.
Nein, keucht sie. Oh, bitte nicht.
+
Blutige Schlieren vom Kampf; von beiden kleben die Handabdrücke, große, kleine, rot auf den Fliesen.
Nein, du machst das falsch, sage ich zu ihr: Ava; neuer Name. Sie trägt ein Rüschenkleid, das Ruth ihr angezogen hat, mir wären Jeans und T-Shirt lieber gewesen, aber sie kann boshaft sein. Ich umrunde das Mädchen, prüfe ihre Griffe, Bisse wie ein Boxtrainer.
Meine Zähne rutschen ab, greint sie.
Du hast zu viele Horrorfilme gesehen: Man schlägt den Kiefer nicht rein, man reißt das Nackenfleisch raus.
Was‽ … Das kann ich nicht.
Blut allein reicht nicht für dich. Du verwandelst dich gerade, du brauchst mehr, sonst laugt es dich aus.
Sie tut sich wirklich schwer: würgt, als sie ein Hautstück abbekommt, das sie gleich auf den Boden spuckt. Ihr Mund ist blutnass. Ich schaff’s nicht, Martin. Bitte, lass mich.
+
Mit der Linken greife ich mir den Leib; mit der Rechten schäle ich einen Halsmuskel ab, den ich Ava vor die Füße werfe, als wäre sie ein Hund. Reiß dich zusammen. Schluck’s runter!
Sie kotzt in die Dusche, eine glitzernde, schwarze Pfütze.
Ruckartig ziehe ich sie hoch; halte ihr mein Klappmesser hin: Das ist ein Feeding Razor aus England. Damit geht’s leichter …
Ava nimmt es in die Hand, fühlt mit dem Daumen über den ziselierten Griff, bis sie es aufklappt.
Ich deute auf den Körper: Seine Haut wird blau, weil das Blut in den Adern stockt. Beeil dich, gleich ist es bitter.
Nein! Scheppernd lässt sie das Messer fallen.
So, du willst nicht? Aber du musst! Warum vergeude ich Zeit mit dieser Göre? Zwei Anrufe warten. Und ich will trinken. Ewiges Leben oder der Tod, entscheide dich.
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Als Voyeur betrachte ich sie durch den Türspalt: Wie sich Ava mit der Klinge selbst verletzt, sich am Handgelenk ritzt – und losheult, als sie begreift, dass sie nicht tiefer schneiden kann; weil sie leben will.
Dann wird der Hunger zu groß. Ich kenne das, habe es so oft gesehen, miterlebt, durchgemacht; und sie trennt doch ein Fleischstück ab. Ihre Finger zucken, aber sie schafft es, steckt es sich in den Mund, kaut; würgt und kaut und schluckt es runter. Es bleibt unten.
Glückwunsch. Applaudierend trete ich ein: Lass mich deine Wunden verbinden.
+
Sie hockt auf dem Sofa, die blutigen Hände im Schoß, während das alte Leben von ihr abfällt. Verloren, ihr trauriger Blick, der mich gestern schon berührt hat: Wenn man nicht weiß, aber ahnt, dass deine drei Wünsche nicht in Erfüllung gehen werden: die große Liebe, das Leben im Rampenlicht – oder die Welt zu verändern, zum Guten. Wenn die Woge sich langsam, ganz langsam auftürmt; man die Kraft dahinter spürt, die über dich hinwegrollen wird, mit voller Wucht, ehe sie sich zurückzieht – nur den Schaum deiner Träume übriglässt, knisternd in der Sonne; wenn du am Strand liegst, zerschmettert, nicht als Meerjungfrau, sondern als Fisch, der bald stinkt, von Möwen gefressen, bei Ebbe, und voller Fliegen; bis die nächste Flut es fortwäscht.
Willst du was trinken?, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
Na komm, sage ich; wobei ich zur Anrichte gehe, mir ein Glas auffülle, ein zweites für sie. Nimm.
Und sie gehorcht; klemmt es zwischen die Beine, ohne zu trinken, starrt nur in die bernsteinschwere Flüssigkeit, seltsam fasziniert von den Reflexionen der Kerzen.
Ich rücke den Ohrensessel heran, um ihr gegenüber zu sitzen; leere den Bourbon in einem Zug und stelle mein Glas weg, ehe ich mich gelassen zurücklehne. Gut; wer bist du?, frage ich sie. Und wer willst du sein?
+
Das Gänseblümchen am Puls, neben den Schnitten; der obligatorische Totenkopf, und ein Mädchen auf der Schaukel, die nassen Haare im Gesicht. Woher die Tattoos? frage ich.
Was geht’s dich an?
Ich sauge am Reißzahn. Wie alt bist du wirklich?
Sie hebt eine Augenbraue. Siebzehn?
Gestern ein Jahr mehr …
Ja, und‽ Was soll’s? Ich hab nächsten Monat Geburtstag.
Dachte, man muss volljährig sein, um –
Nicht, wenn Papa unterschreibt.
Ach so. Okay. Die Situation entgleitet mir.
Ich muss nach Hause, sagt sie plötzlich, steht auf. Meine Mum wird sich sorgen.
Setz dich hin!
Ava fügt sich.
Ich nehme das Glas aus ihrem Schoß und koste: zu warm, zu dunkelsüß, und trinke aus, stelle es gegen meins. Hör zu …
Was?
Dein altes Leben ist weg. Paff! Vergiss deine Eltern; was du jahrelang im Klassenraum gelernt