Raue Februarwinde über den Elbmarschen. Manfred Eisner

Raue Februarwinde über den Elbmarschen - Manfred Eisner


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einen Kauflustigen unterbrochen, der den Laden betritt, arbeitet Hannelore am Schreibtisch ihres kleinen Büros und versucht einige zusammenhängende Sätze für die von ihr geforderte Verlautbarung zu Papier zu bringen. Dabei schweifen ihre Gedanken von dem tristen Leichenfund ab und gleiten in die Ferne. Schon als sie den Fremden das erste Mal sah, verliebte sie sich in den blonden, ungemein gut aussehenden jungen Mann, von dem sie lediglich weiß, dass er aus Lübeck stammt. Sie bemerkte ihn des Öfteren bei Veranstaltungen und Zusammenkünften sowohl von Befürwortern als auch Gegnern der Windkraftanlagen, an denen sie weisungsgemäß teilnahm. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass dieser ausgesprochen schöne Mann immer wieder in ihre Richtung schaute und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hannelore war – das muss sie sich auch heute noch ehrlich eingestehen – durch die nachlässige Art und die sexuelle Kälte ihres Ehemannes wahrlich liebeshungrig geworden. Fast jede Nacht, wenn sie allein im Ehebett lag, brach sie in Tränen aus und tröstete sich, indem sie sich selbst befriedigte. Jedes Mal, wenn Harald Stunden später zu ihr ins Bett kroch, war sie bereits in einen tiefen Schlaf versunken. Dann auf einmal weckte plötzlich dieser Adonis die heißesten Gefühlsregungen in ihrem Inneren. Als Werner Reimers bei einer Protestveranstaltung direkt hinter ihr stand, spürte sie seinen aufgeregten Atem an ihrem Nacken. Sie sah sich vorsichtig um und bemerkte, dass die Blicke sämtlicher Anwesenden auf den Sprecher fixiert waren, der vor ihnen vehement einen lautstarken Appell zum Widerstand gegen die verhassten Windkrafträder und die »Verspargelung unserer Natur« aufrief. Eine unwiderstehliche Kraft trieb sie Schritt für Schritt rückwärts, bis sie den direkten und warmen Körperkontakt und bald darauf die drängende Härte seiner Männlichkeit an ihrem Gesäß verspürte. Willenlos ließ sie sich wenig später von dem Unbekannten vom Versammlungsort wegführen, nachdem ihr dieser nur das Wort »Komm!« ins Ohr geflüstert hatte. Verschämt blickte sie aus dem Seitenfenster des fahrenden Autos, mit dem sie gemeinsam zum Gasthof »Zur Lindenschenke« fuhren, in dem er logierte. Unbemerkt betraten sie das Gebäude durch eine Hintertür und er führte sie auf sein Zimmer. Wortlos küssten sie sich, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leibe und fielen von einem leidenschaftlichen Fieber befallen übereinander her. Von da an nahmen sie jede sich bietende Gelegenheit wahr, um sich – wo auch immer – zu treffen. Viel sprachen sie bei ihrem immer wieder heftig aufflammenden Liebesakt nicht miteinander, zu sehr waren sie in diesen versunken. Die wenig ihnen geschenkten Augenblicke nutzten sie ausgiebig für Liebkosungen und intensivsten Geschlechtsverkehr.

      »Ist jemand da? Hallo?«

      Der Ruf unterbricht Hannelores Träumerei. Ein wenig beschämt bemerkt sie, dass sich ihre rechte Hand in ihrem Schoß befindet. »Einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen!«, ruft sie zurück, eilt zum Waschbecken und wäscht sich die Hände.

      »Was kann ich für dich tun?«, fragt sie wenig später das junge Mädchen, das sich suchend im Laden umschaut.

      »Meine Mama hat gesagt, ich soll einen Liter Milch in diese Kanne füllen. Können Sie mir bitte dabei helfen?«

       *

      Es hat zwar aufgehört zu schneien, doch stattdessen regnet es immer wieder in Strömen. Der Mann in der Tür schüttelt das eiskalte Wasser von seinem Regenschirm ab, bevor er die Polizeidienststelle Oldenmoor betritt. »Guten Tag! Ich komme, um eine Vermisstenanzeige zu machen, Frau Kommissarin.«

      »Ich danke Ihnen für die nett gemeinte Beförderung.« Die freundliche weibliche uniformierte Erscheinung mit den rot gefärbten kurzen Haaren unter der Dienstmütze schmunzelt. »Ich bin nämlich leider nur Polizeimeister-Anwärterin. Mein Name ist Helga Timm, zu Ihren Diensten.« Als der Mann lediglich kurz lächelt, fährt sie fort: »Darf ich zunächst Ihren Namen, das Geburtsdatum und die Anschrift erfahren?«

      Wortlos legt der etwa sechzigjährige rundliche Mann, der unrasiert und leicht schmuddelig daherkommt, seinen Personalausweis auf den Schreibtisch.

      PMA Helga Timm liest laut vor, während sie flink die Daten zur Person in ihren Computer eingibt: »Sie sind also Herr Marius Petermann, geboren am 30. November 1953 in Brunsbüttel, hier am Ort wohnhaft in der Deichgrafstraße Nr. 17. Der Name der vermissten Person, bitte?«

      »Ich bin der Wirt des Gasthofes ›Zur Lindenschenke‹, eben auch unter dieser Anschrift. Vor etwa drei Monaten mietete sich ein junger Mann aus Lübeck, ein gewisser Werner Reimers, bei mir ein. Hier ist der Anmeldezettel, den er beim Einzug ausgefüllt hat. Ich weiß nicht genau, was er hier macht, doch ich glaube, er hat irgendetwas mit der Montage der Windräder in unserer Gegend zu tun. Jedenfalls ist er ein sehr ruhiger und netter Kerl und hat stets pünktlich seine zweihundertachtzig Euro für Zimmer und Frühstück bezahlt. Bisher hat er sich unauffällig und tadellos verhalten. Als er am vorletzten und auch am gestrigen Sonntag nicht wie üblich seine wöchentliche Mietzahlung entrichtete, fragte ich Grazyna, meine polnische Bedienung, ob sie etwas über Herrn Reimers wüsste. Sie sagte mir, dass unser Gast seit dem letzten Wochenende nicht mehr zum Frühstück erschienen ist. Ich fand das merkwürdig, zumal er sich nicht abgemeldet hat. Also ging ich auf sein Zimmer und stellte fest, dass seine Kleidung ordentlich im Schrank hängt. Seine Wäsche liegt in der Kommode und die üblichen Toilettenartikel befinden sich über dem Waschbecken. Ich erkläre hiermit ausdrücklich, in seinem Zimmer nichts angerührt zu haben – ich habe nur nach Herrn Reimers gesehen. Nicht dass Sie jetzt glauben …«

      »Keine Aufregung, Herr Petermann, alles ist gut! Beruhigen Sie sich. Ich finde es prima, dass Sie uns Bescheid geben. Gehen Sie bitte jetzt erst einmal nach Hause, wir schicken baldmöglichst einen Kollegen vorbei, der sich das einmal vor Ort ansieht, okay?« Als der Gastwirt nickt, fügt sie an: »Kommen Sie gut nach Hause, auf Wiedersehen. Und nochmals vielen Dank für Ihre Mühe!«

      Beim Hinausgehen trifft Marius Petermann auf den just eintretenden Dienststellenleiter, Hauptkommissar Boie Hansen. Die beiden ziemlich beleibten Herren passen nicht gleichzeitig durch den Eingang, weshalb Hansen höflich grüßt und zur Seite ausweicht, um den Besucher hinausgehen zu lassen, bevor er das Revier betritt.

      »Moin moin, Chef! Sie sollten besser im Bett bleiben bei der Grippe, die Sie sich eingesackt haben!« Helga Timm ist verwundert über das Erscheinen ihres Vorgesetzten.

      »Was wollte eigentlich der Kneipen-Petermann von uns?«, grunzt Hansen gereizt, ohne auf die Begrüßung der Polizeimeister-Anwärterin einzugehen.

      »Der hat soeben eine Vermisstenanzeige gemacht. Einer seiner Gäste, ein gewisser Werner Reimers, ist seit Tagen verschollen und hat seine Rechnung nicht bezahlt.«

      »Ach so, na dann …« Hansen denkt einen Moment nach: »Einen Werner Reimers kennen wir hier doch nicht, oder? Wird sich wohl wieder einfinden. Und ja, ich gehöre tatsächlich ins Bett, aber ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Unser Willi hat mich gestern Abend noch zu Hause besucht und mir von dem Leichenfund am Windpark erzählt. Dabei habe ich erfahren, dass neben unserem Kollegen KOK Hauke Steffens, der ja jetzt bei der Kripo in Itzehoe ist, auch rein zufällig meine liebe Nili Masal, ihres Zeichens Kriminalhauptkommissarin beim LKA in Kiel, am Tatort war.« Trotz seiner triefenden Nase kann sich Hansen eines genüsslichen Lächelns nicht erwehren. »Ich kann mir bis ins Detail vorstellen, was für ein Donnerwetter unser Hein Gröhl losgelassen hat, als er erfuhr, dass jemand vom LKA dabei gewesen ist!« Er setzt sich an seinen Arbeitsplatz und grient vor sich hin. »Ja, ja, die Nili! Wir haben sie hier sehr gemocht, sie ist eine kluge Deern und macht sich, wie man hört, auch beim LKA sehr gut.«

      Wie auf ein Stichwort betritt Nili die Polizeidienststelle. »Einen wunderschönen – wenn auch kalten und nassen – guten Morgen allerseits!«

      »Segg ick doch, Helga!« Boie Hansen steht auf und geht freudestrahlend auf Nili zu. »Wenn man vum Düvel schnacken deit!« Beide umarmen sich herzlich. Dann besinnt er sich seines Schnupfens und schiebt Nili behutsam von sich weg. »Go forts wiet aff vun mi, Deern, ick bün arg verköllt.« Dann stellt er Nili der Polizeimeister-Anwärterin vor.

      Im Laufe der nun folgenden Unterhaltung lenkt Nili geschickt das Gespräch auf den Leichenfund am Windpark. »Stellt euch vor, mein Kollege Walter Mohr und ich waren gerade beim Joggen, als der Streifenwagen der Kripo Itzehoe an uns vorbeifuhr und Hauke Steffens uns wegen des gerade einsetzenden starken Schneefalls in seinem Wagen Schutz


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