Singapur – oder tödliche Tropen. Volker Schult
Sultanat Johor. Ein tödlicher Ausflug
Singapur. Das ersehnte Telegramm
PROLOG
Verdammt, denkt er. Wie war das doch bloß noch? War es die tropische Hitze, der Alkohol oder die euphorische Stimmung, in der er sich nach beendetem Auftrag befand? Oder alles zusammen?
Dann das tiefblaue Meer, das Rollen der Wellen wie sie an den Strand ausliefen und die im warmen Tropenwind sich sanft biegenden Palmen. Der exotische und betörende Duft der wachsig weißen fünfzähligen Blüten der wunderschönen Frangipani.
Trotzdem, die Ereignisse, die er wie einzelne Puzzleteile vor sich sieht, ergeben kein Gesamtbild. Da kann er sich noch so anstrengen, bis Kopfschmerzen sein Gehirn martern.
Es war nachts leicht abgekühlt, nicht sonderlich stark, aber genug, um etwas Erleichterung von der tropischen Hitze zu verspüren. Eine leichte Brise bauschte das Moskitonetz und strich sanft über das Bett.
Plötzlich stand sie da, erinnert er sich. In seinem kleinen Zimmer, vor dem Moskitonetz. Nicht gerade eine ausgeprägte Schönheit, aber doch recht ansehnlich. Gewiss, ihr plattes Gesicht glich eher einer Flunder und diese strichförmigen Augen, die wie Schlitze aussahen, hatten ihn nicht sonderlich angesprochen. Aber ihre schlanke, zierliche Gestalt, die langen schwarzen Haare, ihr überraschend heller, ja fast weißer Teint und ihre kleinen festen Brüste machten den zunächst nicht allzu überwältigenden Eindruck mehr als wett.
Das war eine Überraschung, musste er zugeben. Erwartet hatte er diesen abstoßenden, dunklen, manchmal auch bronzefarbenen Teint, wie ihn die meisten Frauen in dieser gottverlassenen feuchtheißen Tropengegend haben. Er war auch so ganz anders als diese sonnengebräunte Haut der Bauernmädels zur Erntezeit in seiner norddeutschen Heimat. Dagegen stand das vorzügliche und treffliche Weiß der Bürgertöchter und der adligen Damen, letztere allerdings jenseits seiner gesellschaftlichen Stellung.
Schon wieder schweifen seine Gedanken ab. Trotz aller Anstrengungen kann er die besagte Nacht immer noch nicht vollständig rekonstruieren. Er weiß noch, wie sie sich plötzlich in seinem Bett befand, unter dem zeltartigen Moskitonetz. Und dann diese Lustschreie, die sie ausstieß, als er in sie drang. Oder waren es eher Schmerzensschreie? Doch diesen Gedanken verwirft er schnell wieder. Aber gleichzeitig beginnt sein Herz schneller zu schlagen und er atmet schwer. Ganz genau kann er sich noch an das anschließende wohlige, entspannte Gefühl erinnern. Kein Wunder nach all der Anspannung in den Tagen zuvor.
Und dann war sie fort.
Am nächsten Morgen beim Frühstück mit all den leckeren exotischen Früchten – die saftige, goldgelbe Mango stellte sich schnell als seine Lieblingsfrucht heraus – hatte sie sich nicht mehr blicken lassen. Dabei hätte er sie doch so gerne wiedergesehen und ihr zugeflüstert, wie schön er die gestrige Nacht doch empfunden hatte.
Es waren unwirkliche Stunden gewesen wie in einem schönen Traum. Für ihn zumindest.
Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist, dass er durch sein Verhalten einen Freund in Todesgefahr bringen wird.
Sie reibt sich die Schläfen. Sie ist viel zu müde. Erschöpft lässt sie sich in ihr Bett sinken. Schon ist sie eingeschlafen. Wie lange?
Sie erahnt eine Bewegung an ihrem Bett. Im nächsten Augenblick nähern sich Hände ihrem Hals. Wollen ihn umklammern. Sie will fliehen, kann sich aber nicht bewegen. Sie ist wie gelähmt vor Überraschung und Angst. Reflexartig tritt sie mit ihrem Bein gegen etwas. Ein Aufschrei.
Sie will sich aus dem Bett winden, doch da haben bereits andere Hände ihren Knöchel gepackt. Sie verliert den Halt und schlägt auf die Kante ihres Bettes auf. Sie tritt nach den Händen, die es nun auf ihre Arme abgesehen haben. Ihr bleibt nichts andere übrig, als um sich zu treten. Sie wälzt sich auf den Bauch und will sich auf allen vieren aufrappeln, um sich in Sicherheit zu bringen.
Vergeblich.
Weg von hier, nur weg von hier, schießt es ihr durch den Kopf. Unter allen Umständen. Irgendwie. Schnellstens. Sie muss es schaffen, unbedingt zur Tür zu robben. Sie muss es schaffen. Ihre einzige Chance.
Dann holt sie tief Luft, um einen Schrei anzusetzen. Vielleicht hören sie andere Menschen und eilen ihr zu Hilfe. Hände zerren sie zurück und drehen sie auf den Rücken. Hände nähern sich ihrem Hals. Wollen zudrücken. Dann doch nicht. Aber sie reißen ihr das Jadeamulett von ihrem Hals. Ihr Glücksbringer. Sie will schreien, doch sie bringt keinen Laut hervor. Sie ringt nach Luft. Ihr Gesicht wird immer bleicher, bläulicher. Sekunden erst oder doch schon Minuten?
Keine Ahnung.
Sie spürt wie etwas Hartes, Kaltes und Glattes in sie eindringt. Ein stechender Schmerz durchfährt sie. Sie muss husten. Ihr Mund füllt sich mit Blut, rinnt über ihr Kinn, schließlich auf ihren Hals. Eine warme Flüssigkeit, daran kann sie sich noch erinnern.
Dann tut es nicht mehr weh. Der Schmerz verblasst. Genau wie die Gestalten um sie herum.
Sie sieht ein großes schwarzes Loch vor sich. Anschließend wird es dunkel und still. Ganz still.
1. KAPITEL
INSEL PENANG, 1899. IM HAFEN VON GEORGETOWN
„Wenn Sie meinen, unbedingt Schießübungen veranstalten zu müssen, Herr Kapitän, dann tun Sie es. Aber ich insistiere, dass das Schießen weitab von Georgetown und überhaupt von unserer Insel durchgeführt wird. Unsere Bevölkerung soll nicht wegen des Grollens der Granaten in Angst und Schrecken versetzt werden. Unruhe ist das Wenigste, was wir hier gebrauchen können. Das stört nur unseren regen Handelsverkehr, den Sie sicher schon bei Ihrer Einfahrt in den Hafen bemerkt haben.“
Damit endet die Belehrung durch den wenig eindrucksvollen Hafenkommandanten Anthony Jenkins. Für einen britischen Kommandanten sieht Jenkins in seiner bieder wirkenden Uniform, seinem nichtssagenden runden Allerweltgesicht, seiner Halbglatze und seinem buschig-länglichen Schnurrbart eher aus wie ein bürokratischer Langweiler in einem britischen Provinznest, der meint, es zu etwas gebracht zu haben. Typisch selbstgefälliger Engländer. Aber – und das muss Kapitänleutnant Wilhelm Kurz zugeben – der Engländer im Allgemeinen hat ein Auge dafür, welche Gegenden auf der Welt von strategisch überragender Bedeutung sind.
Da braucht Kurz sich nur seine bisherige Reise nach Penang vor Augen zu führen: Gibraltar, Malta, den Suezkanal, Aden an der Spitze der arabischen Halbinsel, von wo man den Zugang zum Roten Meer kontrolliert und Colombo auf der Insel Ceylon. Und dann erst Penang. Schon vor über einem Jahrhundert, noch kurz vor der Französischen Revolution, haben die Briten sich diese Tropeninsel unter den Nagel gerissen. Und wo war damals das Deutsche Reich? Pah, von einem „Reich“ konnte man bei dem zerrissenen Flickenteppich von kleinen und kleinsten Fürstentümern noch gar nicht sprechen. Da musste erst einer wie Bismarck kommen oder wie unser jetziger Kaiser Wilhelm II. Jawohl, jetzt wird es anders werden. Da werden sich diese Engländer noch umschauen. Aber diese Gedanken behält er lieber für sich.
Mit Penang – das muss Wilhelm Kurz zugeben – hat der Engländer geradezu einen geostrategischen Coup gelandet. Von hier aus kontrolliert er den Zugang zu der Straße von Malakka, eine der meistbefahrensten Meereswege der Welt. Am anderen Ende hat er sich in Singapur niedergelassen. Zu der damaligen Zeit noch ein malariaverseuchtes