Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger
des Traktors mit einer solchen Schwäche in den Beinen, wie sie sie noch nie erlebt hat. Schweigend gehen beide Frauen ins Haus. Es ist still. Sie treten in die halbdunkle Küche. Fliegen summen überlaut. Ohne ein Wort zu wechseln, setzen sie sich einander gegenüber auf die Eckbank. Sehen sich nur an. Ratlos. Verkrampfen ihre Hände ineinander, jede für sich. Die eine im Schoß, die andere auf dem Tisch. Schweigen.
Der Fliegenfänger, der als Klebestreifen mit unzähligen toten Tieren daran von der Decke hängt, trennt ihre Gesichter voneinander. An ihm muss man vorbeischauen, wenn man sich in die Augen sehen will. „Diese vielen Fliegen“, muss Edelgard in diesem Moment denken, „das ist die frühe Wärme in diesem Jahr.“ Eine Weile sieht sie den noch lebenden zappelnden Tieren zu. „Man sollte ihn irgendwann auswechseln“, geht es ihr durch den Kopf.
„Jetzt schwätz scho, was ist?“, fragt die Mechthild-Oma. „Hast du sie gefunden? Weißt du was?“ Edelgard schüttelt den Kopf und starrt ihre Mutter mit großen, aufgerissenen Augen an. „D’ Lotte hat sie heimgehen sehen und d’ Anna, em Fritz Schäuble sei Anna, au“, meint Edelgard. „Aber sie isch net da! Oder meinsch du, sie könnt sich versteckt haben – im Hof oder im Stall?“, rätselt sie.
„Auf“, bestimmt Mechthild energisch, „komm, mir gehet jetzt mit’nander suchen, au auf den Höfen in der Nachbarschaft. Los, komm, des machet mir glei!“ Mit diesen Worten macht Mechthild schon die Haustür auf. „Weisch, ich hab jetzt kei Ruh mehr. Des passt doch net zur Sonja. Jetzt isch es bald Viere und die isch no net daheim.“ Edelgard ist froh, dass die Mechthild die Initiative übernimmt. „Gut, dass Mutter da ist!“ Sie spürt, wie sie immer noch von der energischen Kraft der Älteren profitiert.
Sie eilt der alten Frau hinterher, rüber in den Anbau des Onkels. Dort öffnen sie alle Türen, laufen hinters Haus, in den Stall, in die Scheune. Sie rufen hoch ins Heu. Edelgard steigt die Holzleiter hinauf, kriecht im Heuboden herum. Nichts! Sie gehen hinunter in den uralten Gewölbekeller, den die Kinder überhaupt nicht mögen. Sie ist nicht da. „Was sollte sie auch hier?“, überlegt Edelgard. Es gab für Sonja bessere Verstecke, wenn sie eines gebraucht hätte.
Ihr lautes Rufen hören die Nachbarn. Irgendwann fangen sie an mitzusuchen. In jedem noch so versteckten Winkel der alten Bauernhäuser wird nachgeschaut. Nichts! Das Kind fehlt, wie jemand, der pünktlich losgewandert ist, seinen gewohnten Weg genommen hat und doch an seinem Ziel nicht angekommen ist. Sonja wird nicht gefunden. Keine Spur von ihr hier oben. Nicht in den Häusern, nicht zwischen den Häusern.
Der Wald hat sie behalten! Warum? Es war, als habe er das Mädchen verschluckt. Sie ist unten hineingegangen und oben nicht wieder herausgekommen.
Dass etwas Unheilvolles geschehen sein musste, wird in Edelgard zur gefühlten Gewissheit. Sie braucht nur ihre Mutter anzusehen und weiß, dass die keinen anderen Gedanken hat. „Wenn doch bloß der Arthur da wäre!“, wünscht sich Edelgard sehnlichst. „Der wüsste Rat, was zu tun ist. Aber gerade heute ist er auf der anderen Seite des Tales, auf den beiden großen Pachtwiesen, um nach dem Rechten zu sehen.“
„Geh, ruf Hilfe!“, sagt die Mechthild sehr bestimmt. Es klingt energisch, aber Edelgard hört die zitternden Tränen im Hintergrund heraus. „Wen ruf ich an?“, überlegt sie kurz. „Am besten unseren Freund Herbert, Rolands Vater. Der weiß meistens Rat. Der wird wissen, was zu tun ist. Heute am Mittwochnachmittag sind die meisten auf Arbeit, aber den Herbert könnte ich erreichen, der werkelt bestimmt in seiner Schreinerei herum.“
„D’ Sonja isch net heimkommen!“ Edelgard schreit diesen Satz förmlich in die Muschel. „Wie, net heim’kommen?“, fragt Herbert mit ruhiger Stimme. „Was meinsch du?“ „Ja von der Schul! Jetzt isch es fast Fünfe und sie isch no net da. Wir haben schon überall g’sucht. Sie sei in Richtung heim gangen, haben d’ Leut g’sagt, aber sie isch verschwunden, sie isch weg!“ Ohne abzusetzen sprudelt es aus Edelgard heraus. In der folgenden Stille hören beide nur das Atmen des anderen.
Dann sagt Herbert: „Also am besten, wir alarmieren die Feuerwehr, machen gleich Nägel mit Köpfen.“ Herbert spricht jetzt hochoffiziell mit fester Stimme, wie es sich für einen wichtigen Mann im Dorf gehört. In solchen besonderen Situationen glänzt er sogar mit seinem erlernten Hochdeutsch, auf das er ganz besonders stolz ist. „Ja so was“, denkt er für sich, „was kann denn da passiert sein? Vielleicht liegt das Kind wo und hat den Fuß gebrochen. Die klettern doch alle Abkürzungen den Wald hoch. Wahrscheinlich hat das Mädle seine Mutter gar nicht rufen gehört. Da muss man danach gucken! Vor drei Stunden in den Wald rein und kommt nicht mehr raus. Da ist doch was faul.“ So denkt der Herbert, wäscht sich schneller als sonst die Hände, lässt sich nicht mal Zeit zum Abtrocknen und gibt fast wortgleich seine Gedanken von vorhin übers Telefon dem Feuerwehrkommandanten weiter. „Da muss man freilich danach gucken“, kommt die kurze, bündige Antwort zurück. „Ich mach das!“
Kurz darauf heulen Sirenen. Die Menschen halten inne, egal was sie gerade tun. Brennt’s denn? Wo? Sie rennen auf die Straße. Weiß der Nachbar was? Nein. Aber da muss es doch wo brennen! Die Sirenen heulen weiter, gehen durch Mark und Bein. Grausig ist das. Bis einer es weiß: „D’ Sonja ist von der Schule noch nicht daheim. Man muss sie suchen.“
Die Feuerwehr stellt gerade einen Suchtrupp zusammen. Alle, auch die Kerle von der Jugendfeuerwehr, müssen kommen und helfen. Das laute Heulen der Sirenen ist verstummt, aber die Menschen behalten ihre Gänsehaut. Die bleibt, so wie Anspannung und Herzklopfen bleiben. Wer Kinder hat, sieht sie heute mit anderen Augen an. Gott sei Dank, sie sind zu Hause! Es gibt an diesem späten Nachmittag und Abend wohl kein Haus in der Gemeinde, wo nicht diskutiert und gemutmaßt wird, was mit Sonja passiert sein könnte. Irgendwie schmeckt heute das Vesper nicht so wie sonst. Manch einer schiebt es schneller von sich, als er es eigentlich vorhatte.
Auch auf dem Berg hören die Bewohner das Dröhnen und Heulen der Sirenen. Als Echo klingen die Töne aus verschiedenen Ecken zurück und hinterlassen den Eindruck eines Infernos. Edelgard und ihre Mutter fahren so erschrocken zusammen, als hätten sie einen Schlag mit einer Keule bekommen.
„Die Sirenen! Die Sirenen müsste Arthur hören“, fährt es Edelgard durch den Kopf. „Er muss sich doch denken, dass im Ort was g’schehen ist. Fünfe ist es auch. Eigentlich Zeit für ihn zum Heimkommen“, überlegt sie. „Oh Herrgott“, fleht Edelgard, „lass den Arthur heimkommen!“ Jetzt wissen es alle, es ist sozusagen amtlich. „Mit unserem Mädle ist was passiert!“ Wenn doch wenigstens der Vater da wäre, aber der ist am Morgen früh weg, musste nach München, Kunden besuchen.
Beide Frauen hält es nicht mehr im Haus. Sie rennen in den Hof, der an die Dorfstraße grenzt. Ihre Nachbarn sind da, sie stehen in kleinen Gruppen beieinander und diskutieren. Nicht zu laut, denn man weiß ja nichts Genaues. „Die wird man schon finden, Edelgard, mach dir net so viel Sorgen! Jetzt gucket ja ganz viele nach ihr. Man hat sie doch noch gesehen nach der Schule, also muss sie hier au wo sei. Geh nur rein zu deine andere Kinder! Mir gehen jetzt au zum Wald und helfet suchen. Mir saget dir gleich Bescheid, wenn mir was Neues erfahret.“
Kein bisschen getröstet geht Edelgard ins Haus. Es stimmt ja, sie muss nach ihren drei Jungs sehen. Die Buben haben sich so erschrocken, als die Sirenen heulten, und sind ins Haus gerannt. Dort hocken sie eingeschüchtert mit großen Augen in der Küche.
Schweigend haben sie heute ihre Hausaufgaben gemacht und danach schweigend die kleinen Spielautos auf dem Tisch herumgeschoben. Ihre Brummlaute, mit denen sonst die Fahrzeuge in allen Lautstärken begleitet wurden, kommen ihnen nur leise über die Lippen. Die Mutter hatte ihnen vorhin kurz gesagt: „D’ Sonja isch no net von der Schul daheim und jetzt suchen alle nach ihr.“ „Warum redet die Mutter nur so komisch?“ Eine ganz neue Stimme hatte sie. „Des war doch net so schlimm, wenn die Sonja mal später heimkam.“ Erst als sie begriffen, dass die Sirenen ihrer Schwester galten, erstarrten ihre Kinderseelen vor Angst und Schrecken. Sie trauten sich nicht, Fragen zu stellen, denn jeder Versuch wurde von der Oma mit harschen Worten abgetan. „Still jetzt, mir wollet jetzt nix mehr hören, setzt euch hin und haltet den Mund!“
„Fangt ganz unten am Fluss an zu suchen! Teilt euch auf!“, rief der Kommandant.
„Immer