Mai-Schnee. Gertrud Wollschläger
schon tiefbraun war. Wer ihn kannte und so gehen sah, merkte sehr schnell, dass mit dem Jürgen heute was nicht stimmte. Kein bisschen Kinderfröhlichkeit war zu spüren. Ein erfrorenes Gesicht und entsetzte Augen waren es, die dem Betrachter entgegenblickten. Aber wer sah das schon? Eigentlich keiner. Und wer hinsah, schaute schnell wieder weg, um nicht Antworten geben zu müssen. Sie waren nicht leicht, diese Antworten. Fanden die Erwachsenen doch selber keine auf all die drängenden Fragen. Eigentlich machte sich niemand viele Gedanken über die Gefühle der Geschwister. Überhaupt war der Kerle doch schon groß, überragte seine Mitschüler um einiges. Für seine neun Jahre sah er älter aus, als er tatsächlich war. Glaubte man deshalb: „Der wird schon damit fertig werden?“
Jürgen legte einen Zahn zu. Er durfte nicht trödeln, sonst fuhr ihm der Bus vor der Nase weg. Er musste rechtzeitig an der Haltestelle sein. Keinesfalls wollte er alleine den schrecklichen, einsamen Waldweg auf den Berg nach Hause gehen, wo doch hinter jedem Baum der Eine stehen konnte mit einem Messer in der Hand. Bei dem Gedanken liefen seine Beine von ganz alleine schneller. Er fühlte sein Herz kräftig an seine Rippen klopfen.
Heute Mittag war er der erste am Bus. Der stand schon da. Penibel genau geparkt neben der vorgeschriebenen weißen Linie. Sein Motor brummte beruhigend leise vor sich hin. Herr Schaible, der Busfahrer, saß gemütlich auf dem Trittbrett an der Fahrerseite und zog an seiner Zigarette. „Du bist ja heute so früh, sogar der erste und ganz verschwitzt bist du. Bist du so schnell gelaufen? Ja, ja, es ist aber auch heiß heut. Sitz nur rein, wenn du möchtest.“
Der Herr Schaible sah Jürgen mitleidig an. Er dachte an die Geschehnisse und fand, dass es eine echte Heimsuchung war, was dieser Familie geschehen war. Der Fahrer stand auf, schaute auf den Jungen hinunter und fuhr ihm kurz mit der Hand durch das dunkle Haar. „Du bist schon ein armes Büble, was du alles miterleben musst.“ Die mitleidigen Worte kamen wie Peitschenhiebe bei Jürgen an. „Der Herr Schaible weiß sicher auch Bescheid, dass ich der Nächste sein werd.“ Er zog den Kopf weg, machte, dass er in den Bus kam und ließ sich auf seinen Sitz fallen. Warm war es im Bus. Jürgen war froh, dass noch keiner der Freunde da war. Er hatte so viel zu denken. Der Schulranzen, der sonst als erstes unter den Sitz flog, blieb auf dem Rücken. Er hatte ihn vergessen.
Jeder hatte seinen Platz im Bus. Wehe, einer setzte sich falsch hin, dann war der Streit vorprogrammiert und der Busfahrer musste streng durchgreifen. Dieser Bus war neu. Seit dem Tod seiner Schwester wurde er eingesetzt. Kein Kind sollte mehr nach Schulschluss alleine durch den Wald nach Hause gehen müssen.
Die Anspannung nahm dem Bub die Luft. Er weinte. Merkte nicht, wie seine Schultern zuckten. Es war ein trockenes Schluchzen und Schlucken, das den Körper erschütterte. Jürgen presste sein Gesicht an die Scheibe und empfand die glatte Glasfläche wie eine wohltuende Berührung.
Von Weitem hörte er seine Schulkameraden lärmend und durcheinanderredend die Straße entlangkommen. Sie drängten und schoben über die Treppe in den Bus, schubsten sich rauf und runter. „Da bist du ja. Warum bist du ab?“ Mit lautem Geplapper haute sich der Erwin in den Sitz neben Jürgen. „Ach lass doch den! Der wollt bloß der erste im Bus sei“, schnaubte ziemlich verächtlich der Edgar, der ihn sowieso nicht leiden konnte. „Wir waren noch am Kaugummiautomat. Der Kurtle hat Geld dabeigehabt. Zwei Mark. Wir haben alles verputzt. Guck, was wir rausgeholt haben! Eine Pfeife und einen Ring.“ „Und der Ewald hat am Schluss noch den Schlitz vom Kasten mit einem Kaugummi zugeklebt. Da kommt nix mehr raus. Die werden sich wundern!“
„Komm Jürgen, ruck mal auf die Seite, des isch doch mein Platz auch. Mach dich net so breit, zieh deine Haxen ein!“ So ging es durcheinander, bis Herr Schaible ein Machtwort sprach. Dann war Ruhe. Jeder hatte seinen Platz eingenommen und es wurde durchgezählt. Achtundzwanzig Kinder. Es stimmte. Vom Berg waren es sieben, die anderen aus der Nachbargemeinde.
Jürgen saß steif auf seinem Platz und hoffte, dass ihn keiner mehr ansprach. Sein einziger Gedanke war: „Hoffentlich fährt der Bus bald los. Ich muss zu meinem Onkel Arthur, der weiß bestimmt Rat.“
Der Onkel wusste immer Rat. So manches Mal hatte er ihn schon vor dem Vater in Schutz genommen, wenn ihm, Jürgen, eine saftige Strafe drohte. Meistens wegen einer Arbeit, von der es auf dem Hof genug gab, die nicht im Sinne der Eltern erledigt worden war. Der Vater war für seine Überstrenge bekannt. Ein Glück, wenn Onkel Arthur in der Nähe war. Da genügte schon ein scharfer Blick vom Onkel hin zum Vater, dessen Wut nach kurzem, lautem Geschrei in ärgerliche Maulerei umschlug. Hochrot im Gesicht und mit geballten Fäusten drehte der Vater meist ab und ging seiner Wege. Schon immer hatte Jürgen das Gefühl, dass der Onkel der eigentliche Bauer auf dem Hof war.
Nach fünfzehn Minuten Fahrt über die kurvige Strecke fuhr der Bus am Ortsschild Muri, Gemeinde Bergwiesen, vorbei und hielt an der ersten Haltestelle. Sofort drängte Jürgen zum Ausgang, benützte heute sogar seine Ellbogen, was er sonst von den anderen überhaupt nicht leiden konnte. Am liebsten hätte er mitgedrückt, damit die Tür schneller aufging. Auf die anderen warten, das war heute unmöglich, ging gar nicht. Er rannte den kürzeren Weg hinter den Häusern herum auf den elterlichen Hof. Ihr Gehöft lag ziemlich in der Dorfmitte, von den zwei Bushaltestellen war eine am Anfang und eine ziemlich am Ende des kleinen Weilers. Das sollte den Kindern ein sicheres Nachhausekommen ermöglichen.
Onkel Arthur kommt gerade um die Ecke, hat eben wohl Holz mit der Schubkarre zum Wohnhaus gebracht, als Jürgen auf den Hof einbiegt. „Was rennst du denn so?“, fragt der Onkel verwundert. „Wir haben noch nicht gegessen. Deine Mutter ist noch auf dem Acker, aber der Ludwig ist bereits da. Der hockt bei der Oma in der Küche und spielt. Die Oma wird schon rufen, wenn‘s so weit ist.“ Von Jürgen kommt kein Wort zurück. „Stimmt was nicht? War was in der Schule?“, hakt Arthur genauer nach. „Hast du zu viele Hausaufgaben? Ich schau mir nachher an, was ihr machen müsst.“
Gute Noten, das ist für Arthur das Wichtigste, damit aus den Kindern was wird. „Ihr müsst Abitur machen“, das hämmert er ihnen immer wieder ein, „sonst werdet ihr nix.“ Solche Sätze kennen die Kinder zur Genüge. Auch heute gebraucht er wieder gebetsmühlenartig den Abi-Satz. Normalerweise kommt dann ein wenig überzeugtes „Ja, ja!“ zurück. Heute nicht. Gar nichts kommt heute.
Jetzt erst merkt Arthur, dass sein Neffe noch kein Wort gesagt hat. Er dreht sich zu ihm um, mustert ihn von oben bis unten. Sagt auch nichts mehr. Hantiert mit seinem Schubkarren, lehnt ihn an die Wand vom Holzschuppen, geht ruhig auf Jürgen zu, legt den Arm um die Schultern des Jungen und führt ihn mit sanftem Druck zu seinem Anbau neben dem Wohnhaus, dem Zuhause des Onkels. Hier hat Jürgen stets das Gefühl von Sicherheit und Heimkommen. Sobald dort die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, müssen seine Sorgen und unerledigten Missgeschicke draußen bleiben. Vor allen Dingen sind sie, von hier aus betrachtet, nur noch halb so schlimm. Es sind meist glückliche Stunden für die Kinder vom Hof, wenn der Onkel Zeit für sie hat. Wenn sie mit ihm in der Scheune im Heu verschwinden können und Onkel Arthur erzählt oder Geschichten vorliest. Der ist nämlich gescheit, hat auch Abitur, weiß deshalb, wovon er redet, wenn er von Bildung spricht.
„Setz dich, Bub! Also was ist los?“ Sprechen kann der Bub nicht, bringt kein Wort heraus, es schüttelt ihn ein Weinkrampf. Er heult laut, wie kleine Kinder heulen, wenn ihre Furcht besonders groß ist, wenn sie Aufmerksamkeit und Trost brauchen.
Jürgen fängt an, Worte zu stammeln. Unzusammenhängende Wortfetzen, die zwischen den Stößen von Schluchzern hervorbrechen. „Der kommt wieder – vom Kurtle – Messer – und – sterben – ich der Nächste – bald sind alle tot.“ Verzweifelt legt er den Kopf auf den Tisch. Nur noch leises Weinen, das sich wie ein unaufhörliches, leierndes Summen anhört, kommt aus dem Kind. „Was erzählst du da? Von was und von wem redest du? Hat der Kurtle ein Messer und wer stirbt?“ Erschrocken blickt Arthur auf seinen Neffen hinunter. Sieht auf den empfindsamen, schlanken Kinderhals und spürt ein tiefes Mitleid mit dem Jungen. Ihm ist sofort klar, mit was das gestammelte Wörtergemisch zusammenhängen muss. Ihm wird abwechselnd heiß und kalt. Jetzt nur keinen Fehler machen und nix Falsches sagen! Ratlosigkeit überflutet ihn wie eine Riesenwelle und lässt ihn hilflos und schwach werden. „Ich muss was sagen. Etwas das überzeugt, was die Furcht von dem Kind nimmt!“ Er spürt, wie ihn eine große Wut zu überwältigen droht, was er aber nicht