Dr Crime und die Meister der bösen Träume. Lucas Bahl
tut. Zumindest wird dergleichen dann und wann erzählt. In dieser Situation, in der ich es purem Glück zu verdanken hatte, überhaupt überlebt zu haben, in der ich zu meiner Rettung nichts anderes beigetragen hatte, als so lange durchzuhalten, wie ich durchgehalten habe, ist es zudem unangebracht, von Roberto als Opfer zu reden.
Wir waren beide gleichermaßen Täter und Opfer.
Schon vor vielen Jahren entdeckte ich die wunderbare Kraft der Poesie. Doch letztlich ist es mir egal, ob die Verse, die ich zitiere, den Sterbenden den Übergang zum Tod erleichtern. Ich denke, es ist angemessen und ich weiß, dass es mir gefällt. Nur darauf kommt es an.
Wenn ich mir heute die Ereignisse auf Lanzarote wieder ins Gedächtnis rufe, sehe ich eine Parallele zu Leon Walters neuem Job. Ich habe schon viele Leute sterben sehen. Und meistens fielen mir passende Verse ein, die ich irgendwann einmal auswendig gelernt habe. Aber der exakte Augenblick, wann noch ein Funken Leben durch den Körper zuckt und wann genau der Tod eintritt, ist beim besten Willen allein mittels menschlicher Wahrnehmung nicht exakt zu bestimmen. Beim Todeszeitpunkt bleibt für unsere Wahrnehmung immer das Moment der Überraschung und der Unschärfe. Mit der Präzision einer Stoppuhr, die auf eine hundertstel Sekunde genau den Zieleinlauf eines Sprinters feststellen kann, mögen die Apparate der modernen Medizintechnik hierbei Abhilfe schaffen. Doch wann hat ein Auftragsmörder solche Technik zur Hand?
Was ich sagen will: Diese Unschärfe in der Wahrnehmung korreliert mit jener Unbestimmtheit, die im Forschungsgegenstand von Frau Professor Dr. Meltendonck ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Ihr Institut erforscht – unter der Hand finanziert durch Geldquellen, die der Meister angebohrt hat – den schmalen Bereich zwischen Wachsein und Schlaf. Die wenigen Augenblicke, die im subjektiven Empfinden genauso schlecht zu erfassen sind wie der Übergang vom Leben zum Tod. Das ist der Bereich, in dem die Grenze zwischen der harten alltäglichen Realität und der nebulösen, kaum fassbaren Welt der Träume verschwimmt. Und in denen sich die Fakten der Wirklichkeit mit denen der Einbildung und des Unbewussten so stark vermischen, dass sie nicht mehr voneinander unterschieden werden können.
Doch ich sollte mich hier nicht zu sehr in vagen Reflexionen verlieren, wenn es noch das Ende jener Lanzarote-Episode zu schildern gibt. Praktischerweise hatte sich Roberto die Nähe eines kreisrund im schwarzen Boden gähnenden Schlotes für sein Ableben ausgesucht. Ich stattete ihm einen stummen Dank ab, da er mich nicht dazu zwang, in meinem lädierten Zustand seine Leiche in der brütenden Hitze noch allzu weit schleppen zu müssen.
Es gibt wenige Plätze, die zum Entsorgen von Toten besser geeignet sind als die Magma-Kamine, die einem die ganze Zeit zuzuflüstern scheinen, dass sie bis in den Erdkern hinab reichen.
Roberto dort hinabzustoßen, war trotz der Umstände der einfachere Teil dieser Arbeit. Dabei hinterließ der über den schwarzen Vulkanboden geschleifte Körper eine dunkelrote blutige Spur, die sich am Ort, wo er zusammengebrochen war, zu einem Gebilde erweitert hatte, das mit einiger Phantasie tatsächlich wie eine Blüte auf schwarzem Grund aussah. Hier war sie: die Blume, die die Verse Heyms evoziert hatten. Ein temporäres Gemälde, mehr abstrakt als realistisch. Rasch versuchte ich es mithilfe meiner Füße, so gut es ging, mit Asche und Geröll auszulöschen. Das war alles andere als eine professionelle Spurenbeseitigung, aber mehr war nicht drin.
Ich schleppte die Tasche mit Robertos Geld zu dem Versteck, in dem ich bereits mein Geld vor neugierigen Blicken verborgen hatte. Dabei stellte ich fest, dass der von mir getötete Mr. X offensichtlich den besseren Geschäftssinn der verfeindeten Eheleute besessen hatte. Roberto war – soweit es mir ein rascher Blick in seine Tasche offenbarte – für kleineres Geld tätig geworden. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass er sein Honorar womöglich auf mehrere Verstecke verteilt hatte. Doch ob er billiger zu haben gewesen war oder bereits zuvor ein anderes Depot angelegt hatte, gehörte zu den Unbekannten der seltsamen mörderischen Gleichung, in die ich mich verstrickt hatte.
Meine Hush Puppy wollte ich nach diesen Ereignissen nicht mehr behalten und entsorgte sie zusammen mit der Leiche in dem Schlot. Die kostbare Python dagegen verstaute ich zusammen mit dem Geld. Es sollten einige Jahre vergehen, bis ich wieder hierher kommen konnte, um alles wohlbehalten in dem Versteck vorzufinden und zu bergen.
Dass ich überhaupt in der Lage war, all dies in dem Zustand, in dem ich mich nach der Folter durch Roberto befand, noch zu erledigen, lässt sich nur durch die Aktivierung mir bisher unbekannter Kraftpotenziale erklären, über die mein Körper verfügte.
Dessen ungeachtet brauchte ich Hilfe. Und zwar dringend.
Es gelang mir zwar unter größten Mühen und unsäglichen Schmerzen, wenigstens den einen oder anderen Finger bewegen zu können, was mir zeigte, dass nicht alles in meinen Handgelenken zerschmettert worden war, aber ich sah mich außerstande, die Schmerzen noch sehr lange aushalten zu können. Als finalen Akt schaffte ich es noch, den am Rand des Felslabyrinths geparkten Wagen zu starten. Die normalerweise pechschwarze Asphaltstraße war von einem dünnen rötlich-braunen Staubfilm überzogen. Das half mir, um den Leihwagen kurz vor dem Dorf, von dem aus heutzutage die Touristen auf Dromedaren in den vulkanischen Naturpark geführt werden, zum Schleudern zu bringen und mit quietschenden Reifen und lautem Getöse in einer finalen Kollision gegen einen Felsen krachen zu lassen.
Das Ergebnis war ein veritabler Totalschaden. Die Leute, die mich wenig später aus dem Wrack zogen und nach Arrecife ins Krankenhaus brachten, sagten, dass es ein Wunder gewesen sei, dass ich diesen Unfall überhaupt überlebt hatte.
Man muss es Menschen des 21. Jahrhunderts erklären. Damals gab es kein ABS, keine Airbags, nicht einmal Sicherheitsgurte waren Standard, erst recht nicht in südlichen Ländern.
Jedenfalls erklärte der Aufprall hinreichend die Verletzungen und bösen Prellungen, die mir in der Mehrzahl Roberto zugefügt hatte. Diejenigen, die ich mir zusätzlich als Ergebnis des selbst inszenierten Crashs zugefügt hatte, waren in der Buchhaltung der erlittenen Schmerzen vernachlässigenswert.
Sie verstehen jetzt, warum ich eingangs angemerkt habe, dass Profis tunlichst die Auseinandersetzung untereinander vermeiden. Selbst der Überlebende verlässt ein solches Schlachtfeld nicht ohne schwere Blessuren.
Auch wenn dieser Vorfall mit dem aktuellen Fall nichts zu tun hat, erklärt er doch meine Vorsicht, als es zu meiner ersten persönlichen Begegnung mit dem Meister kam. Gegenseitiger Respekt ist ebenso wichtig wie klare Absprachen und noch ein ganzes Bündel weiterer Vorkehrungen und Maßnahmen. Wir wollten miteinander ins Geschäft kommen. Da empfiehlt es sich, so viel wie möglich vorab klar festzulegen. Das musste allerdings dergestalt geschehen, dass gemeinsame Feinde, sollten sie von dieser Absprache Kenntnis erhalten, keine Anhaltspunkte finden würden, die uns belasten könnten. Zu den Feinden zählen natürlich die nationalen und internationalen Ermittlungsbehörden.
Verträge unter international operierenden Kriminellen sind deshalb noch um ein Vielfaches komplexer und komplizierter als die in der normalen Geschäftswelt. Hier gibt es ein mehr oder weniger gut funktionierendes Regelwerk, an das sich alle Parteien halten sollten. Und tun sie das nicht, sorgt die magische Melange aus Geld und Gerichtsbarkeit für die Klärung der Streitfälle. In der anarchischen Gegenwelt des globalisierten Verbrechens diktiert in der Regel der Stärkere die Gesetze. Dessen ungeachtet gibt es einen grauen Bereich halblegalisierter Absprachen und Verträge. Das sogenannte Ehrenwort unter Gangstern, mündliche Absprachen – forget it! So arbeitet heute niemand mehr. Und auch früher war dies oft nur eine gut gepflegte, romantische Legende.
Eine internationale Riege fürstlich bezahlter, ausgebuffter Anwälte hat sich auf diesen Sektor spezialisiert. Schließlich geht es um sorgfältiges Verschleiern der wahren Absichten – sollte solch ein Vertrag trotz aller Vorsichtsmaßnahmen einmal in die falschen Hände fallen – und gleichzeitig um hieb- und stichfeste Absprachen, an die sich Parteien binden, zu deren Geschäftsfeldern nicht zuletzt Betrug und Erpressung gehören. Erschwerend kommt hinzu, dass beim Verschleiern des eigentlichen Geschäftszwecks – etwa eines Auftragsmords oder des Überfalls auf einen Diamantenkurier – die Tat nicht so stark verschleiert wird, dass zum Schluss niemand mehr nachvollziehen kann, worum es eigentlich geht. Andererseits muss alles so formuliert werden, dass Außenstehende daraus nicht einmal ansatzweise etwas Verdächtiges ableiten können.
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