Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth


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Haben Sie es notiert? Ich sage Ihnen noch meine Dienstnummer, damit auch alles seine Richtigkeit hat. Brauchen Sie nicht. Gut. Danke sehr. Auf Wiederhören.“

      Meyendorff legte auf und lehnte sich zurück. Sein Blick schweifte ins Leere. Clarissa Roth.

      Er bezahlte den Fahrer. Dieser redete gestenreich, er schien etwas erklären zu wollen, aber Meyendorffs Türkischkenntnisse reichten nicht, um den Mann zu verstehen. Das Getriebe krachte, der Wagen fuhr los und verschwand. Er blickte sich um. Ein einigermaßen hübscher Platz, niedrige Häuser, ein paar Läden, ein Kaffeehaus und drei Palmen in Mitte des Platzes. Links zweigte eine Straße ab, die hinaus auf das Land führte. In der Ferne sah er ein paar zerbombte und ausgebrannte Häuser. Die letzten schweren Luftangriffe auf Konstantinopel waren über ein Jahr her. Wahrscheinlich war ein Bomber abgedrängt worden und der Bombenwerfer hatte die Bomben in Panik irgendwo ausgeklinkt, anderenfalls wäre es nicht erklärbar, weshalb man so ein unwichtiges Viertel angriffen hatte. Hier gab es keine Industrie und keine militärischen Stützpunkte. Ein paar Hundert Schritte trennten ihn vom Eingang zum Barackenlager. Er sah zwei Soldaten vor einem Gittertor Wache schieben. Auf dem Platz tummelten sich Leute. Vor allem junge Frauen. Meyendorffs Blick tauchte in die Menge. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Auflauf bei drei Lastwagen.

      Österreicherinnen. Auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen. In strenger Ordnung, kontrolliert von uniformierten Frauen des Wachdienstes und einigen Landsturmmännern kletterten die Frauen auf die Ladeflächen der Laster. Meyendorff suchte nach einem Gesicht in der Menge. Ein türkischer Korporal entdeckte Meyendorff und salutierte stramm. Das gesuchte Gesicht war nicht zu finden. Die Fahrer starteten die Motoren und nacheinander fuhren die Laster ab. Die Sonne senkte sich langsam dem Abend zu, es war heiß und windstill. Der Geruch von Dieselabgasen erfüllte die Luft und verflüchtigte sich nur langsam. Nachdem die drei Laster fort waren, legte sich beschauliche Stille über den Platz. Die Landsturmmänner salutierten vor Meyendorff, er erwiderte den Gruß, dann gingen sie in Richtung Barackenlager.

      Eine halbe Stunde streifte Meyendorff ziellos durch die Gegend. Der Platz war hübsch, aber die Gassen dahinter offenbarten das Elend der Vorstadt. Schäbige Behausungen, anders konnte man es nicht nennen. Die Menschen hier waren bettelarm, wovon sie lebten, war ein Rätsel. Ganz so wie in allen europäischen Städten. Meyendorff hatte nirgendwo andere Vorstädte gesehen.

      Er kam wieder auf den Platz und steuerte auf das Kaffeehaus zu. Im Schatten einiger Bäume standen kleine Holztische vor dem ein wenig schiefen Haus. Drei alte, verhutzelte Männer saßen mit dem Rücken zur Hausmauer nebeneinander. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben und durch nichts in ihrer Ruhe gestört werden zu können. Meyendorff grüßte mit einem Kopfnicken, die Männer erwiderten den Gruß. Er nahm den vordersten Tisch, nicht nur, um den Männern nicht zu nahe zu rücken, sondern auch, um den Platz gut überblicken zu können. Mühsam erhob sich einer der drei, warf sich ein nicht ganz frisches weißes Tuch über den Arm und schlurfte heran. Meyendorff war in seinem Leben häufig in Konstantinopel gewesen, auch in Smyrna und anderen türkischen Luftflottenstützpunkten, aber bis auf ein paar Brocken hatte er die türkische Sprache nicht erlernt. Nicht erlernen können. Nie hatte sich die Möglichkeit eines intensiven Sprachstudiums ergeben. Dabei hielt er sich selbst für talentiert. Schon im Volksschulalter hatte er Ungarisch gelernt und später auf der Kadettenschule perfektioniert. Weiters hatte er in Grundzügen auch Französisch und Kroatisch erlernt. Immerhin reichte sein Türkisch aus, um in Kaffeehäusern Bestellungen abzugeben. Meyendorff wusste, dass viele Türken nicht sehr glücklich darüber waren, dass sich österreichische, ungarische und deutsche Soldaten in ihrem Land aufhielten, denn mit ihnen ging der Krieg weiter, andererseits konnte man als Offizier die Herzen der Leute im Sturm erobern, wenn man sich bemühte, ihre Sprache zu sprechen, ihre Angewohnheiten zu respektieren und ihre Umgangsformen zu pflegen.

      Meyendorff bestellte Apfeltee. Der alte Wirt verneigte sich und verschwand im Haus. Meyendorff versuchte nicht in das Innere des Hauses zu schauen, besser war, er vergegenwärtigte sich den hygienischen Zustand der Küche des Kaffeehauses nicht. Langsam entnahm er seiner Rocktasche das Zigarettenetui, fischte nach einer Zigarette und entflammte sie. Die Luft stand, dennoch war die Hitze erträglich. Es war erst Frühling, der Hochsommer würde schon noch die Gluthitze bringen.

      Die Zeit lief. Meyendorff trank den süßen Apfeltee ohne jede Hast. Er passte seinen Atemrhythmus an den der drei alten Männer an. Die Zeit war nichts, der Tag unendlich, das Leben viel zu kurz und doch ewig in allen seinen Augenblicken. Er hatte die stoische Ruhe der Türken stets bewundert.

      Später trank er eine zweite Tasse Apfeltee und rauchte noch eine Zigarette.

      Eine Horde Kinder jagte mit Geschrei über den Platz und verschwand wieder.

      Dann vernahm Meyendorff Motorenlärm. Er drehte den Kopf. Die Lastwagen kehrten zurück. Vor dem Barackenlager marschierten die Landsturmmänner und Frauen des Wachdienstes herüber. Meyendorff nickte dem Wirt zu und legte einige Münzen auf den Tisch. Er gab immer großzügig Trinkgeld.

      Lärmend rollten die Laster über den Platz. Die Ladebordwände fielen krachend auf und Dutzende Frauen stiegen ab. Wieder war der Platz von durcheinanderwirbelnden Stimmen erfüllt. Meyendorff saß da und suchte in der Menge. Er war zwar recht weit entfernt, aber seine Augen waren ausgezeichnet. Für Piloten war es außerordentlich hilfreich, gute Augen zu haben. Er war nervös. War sie wieder nicht dabei? Sollte er jeden Tag hierherkommen? Machte er sich bei den Wachen nicht lächerlich, wenn er vor dem Mädchenpensionat wie ein streunender Kater herumschlich?

      Da war sie!

      Kurz hatte er ihr Gesicht gesehen. Sein Puls raste. Er erhob sich und ging entlang der Häuserzeile rund um den Platz. Die Frauen trotteten langsam in Richtung Barackenlager. Meyendorff suchte nach ihr, fand sie aber vorerst nicht. Hatte er sich getäuscht? Einige der Frauen bemerkten ihn und schauten neugierig herüber. Clarissas Augen waren dabei. Innerlich jauchzte Meyendorff vor Freude. Ihre Blicke trafen sich. Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie in der Menge vorwärtsschritt. Ihre Blicke trennten sich erst, als sich ein Haus zwischen sie schob. Wie schön sie war. Unbeschreiblich schön. Eine Prinzessin. Die Menschenmenge verflüchtigte sich, die Laster fuhren ab. Einige ältere Frauen standen noch tratschend bei den spärlich bestückten Warenkörben des Gemüsehändlers. Zwei Frauen des Wachdienstes waren unter ihnen.

      Was sollte er tun? Wie würde er Clarissa jemals ansprechen können? Immer waren da neugierige Augen und Ohren. Wie würde er je mit ihr ins Gespräch kommen können?

      Er wollte sich eben eine Zigarette anstecken, da huschte eine zierliche Gestalt um die Ecke und flog mit leichten Schritten an ihm vorbei. Clarissas vorwitziger Blick warf ihn beinahe um. Sie war gekommen!

      Vor dem kleinen Fenster der Bäckerei blieb sie stehen und schien über das Angebot nachzudenken. Sollte sie ein großes oder zwei kleine Brote kaufen? Aber Meyendorff wusste genau, dass sie nicht wegen der Brote zurückgekommen war. Er trat an sie heran.

      „Guten Tag, mein Fräulein. Ich habe die Ehre, Sie zu kennen. Erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Aufwartung mache.“

      Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an.

      „Guten Tag, Herr Oberleutnant.“

      Sie reichte ihm ihre Hand. Meyendorff ergriff und küsste sie galant.

      „Wenn Sie gestatten, es wäre mir ein Vergnügen, Sie beim Brotkauf zu begleiten. Oder darf ich es wagen, Ihnen einen kleinen Spaziergang vorzuschlagen?“

      „Der Bäcker hat bis spät nachts offen. Ich muss das Brot nicht sofort kaufen. Aber in spätestens zwanzig Minuten muss ich durch die Sperre gegangen sein.“

      Kurz schaute sie zu den älteren Frauen hinüber. Diese hatten sich offensichtlich zu einem Kauf entschlossen und waren im Begriff, ins Barackenlager zurückzugehen. Sie alle hatten den Oberleutnant und das Fräulein vor der Bäckerei gesehen.

      „Die Hyänen werden uns bestimmt nicht aus den Augen lassen“, flüsterte sie.

      Meyendorff konnte sehen, wie sich eine der zwei Wachfrauen von der Gruppe löste und sich in den Schatten eines Baumes stellte.

      „Wir


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