Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth


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hat sich rentiert, unsere Rucksäcke sind prall und schwer. Wer hätte das gedacht? Ich kneife meine Augen zusammen. Plötzlich rast mein Puls.

      „Ein Gendarm.“

      Karel ist ein guter Wanderer, aber meine Augen sind schärfer als die seinen. Und ich wittere Gefahr von Weitem. Das ist mein alter Soldateninstinkt.

      Wir springen in den Graben.

      „Hat er uns gesehen?“

      „Weiß nicht. Er kommt aber auf uns zu.“

      Karel hebt vorsichtig spähend den Kopf.

      „Er rennt nicht, also hat er uns nicht gesehen.“

      Ich bin nicht überzeugt. Mit Schwarzhändlern wird derzeit kurzer Prozess gemacht. Wir müssen schnellstens von hier verschwinden.

      „Da entlang“, flüstere ich. „Zum Gebüsch, dann über das Feld zum Wäldchen. Wenn er uns nicht gesehen hat, hängen wir ihn ab.“

      Gebückt rennen wir los. Beim Gebüsch stoppen wir und halten Ausschau. Der Gendarm geht ohne Eile den Weg entlang. Ich beginne zu hoffen. Vor uns liegt ein offenes Feld, aber die Strecke ist nicht sehr weit. Wir haben gute Chancen, zu entschlüpfen. Da bleibt der Gendarm stehen und starrt in die Ferne, dann in unsere Richtung.

      „Verdammt, er ist nicht allein.“

      Ich brauche den zweiten Gendarm gar nicht zu sehen, ich weiß genau, dass er irgendwo im Gebüsch gelauert, uns genau beobachtet und jetzt seinem Kollegen Handzeichen gegeben hat. Karels Gesicht ist kalkweiß.

      „Renn!“, rufe ich.

      Wie scheu gewordene Ackergäule galoppieren wir los, zwei ältere, mit schweren Rucksäcken beladene Männer. Im Augenwinkel sehe ich den Gendarm auf uns zu laufen. Der zweite wird auch schon unterwegs sein. Jetzt brauchen wir Glück, sehr viel Glück. Ein paar Schritte vor uns ist das Wäldchen. Vielleicht gelingt es uns, sie hier abzuschütteln. Aus dem Gehölz taucht eine Uniformkappe auf. Und die Mündung einer Pistole. Direkt vor uns.

      „Stehen bleiben! Hände hoch!“, brüllt der dritte Gendarm.

      „Scheiße!“, knurrt Karel atemlos.

      Ein gut geplanter Hinterhalt. Und wir sind hineingelaufen. Die beiden anderen Gendarmen stoßen zu uns.

      „Na, was haben wir denn da?“, fragt der erste, der Kommandant.

      Er lächelt breit und perlustriert uns. Er zieht Karels Taschenmesser aus der Scheide.

      „Zeigt eure Rucksäcke her!“

      Was sollen wir tun? Auf frischer Tat ertappt. Wir haben keine Chance. Der Mann mit der Pistole deutet in den Wald.

      „Da lang!“

      Karel und ich wechseln einen fragenden Blick. Wollen sie uns hinter den Bäumen erschießen? Der Pistolenheld ist ziemlich missmutig, er stößt uns voran. Wir verschwinden im Wald.

      „Da setzt euch nieder! Da, an den Baum.“

      Wir gehorchen. Der Gendarm mit der Pistole lässt uns nicht aus den Augen, während die beiden anderen sich auf einen liegenden Baumstamm setzen und unsere Rucksäcke auspacken.

      „Da schau her! Das ist ja ein Volltreffer. Respekt, lieber Karel, heute warst du wieder fleißig.“

      Ich spitze die Ohren, der Kommandant kennt Karel.

      „Steck endlich die Spritze weg!“, ruft der Kommandant seinem Kollegen zu. „Karel und sein Freund werden uns schon nicht beißen.“

      Erleichtert atme ich auf. Das sieht nicht nach Gefängnis aus.

      „Na gut, Ctibor, kommen wir ins Geschäft“, sagt Karel. „Wie viel willst du?“

      Der Kommandant winkt ab.

      „Erst mal Inventur, dann reden wir weiter.“

      Der Pistolengendarm packt die Speckseite, zieht ein Taschenmesser und schneidet sich eine dicke Schwarte ab. Er feixt uns hämisch an und schmatzt drauflos.

      „Hoho! Ein Schöppchen!“, ruft der Kommandant.

      Ich sehe, wie Karels Augen wässrig werden, seine Lippen beben. „Die Hälfte“, sagt er. „Die Hälfte vom Schnaps, drei Würste und der ganze Speck.“

      Der Kommandant macht ein böses Gesicht.

      „Schnauze zu, sonst marschiert ihr in den Arrest.“

      Er öffnete die Flasche, kostet und reicht sie weiter. Der zweite Gendarm nimmt einen Laib Brot, schneidet drei dicke Scheiben ab und schmiert Schmalz darauf.

      „Habt ihr Salz?“, fragt er.

      Die drei lachen dröhnend. Gierig mampfen sie und spülen die Happen mit Schnaps hinunter.

      „Ihr Straßenräuber“, knurrt Karel.

      Wieder hallt ihr Gelächter durch das Gehölz. Schließlich packen sie die Speckseite, alle Stangen Eselswurst, die halb geleerte Schnapsflasche, das Schmalz und den angeschnittenen Brotlaib ein. Der Kommandant tritt nahe an uns heran.

      „Habt ihr aber ein Glück, dass wir einander nie begegnet sind. Jaja, der Schwarzhandel ist ein Übel.“

      Sie richten sich zum Abmarsch.

      „Mein Messer. Gib mir mein Messer zurück!“

      Der Kommandant mustert Karels Messer kritisch, dann zwinkert er uns zu.

      „Ich bin ja kein Unmensch, nicht wahr?“, fragt er seine Kollegen, die ihre Zahnreihen präsentieren.

      „Ich dachte, du wärst einer“, grunzt der Pistolenmann.

      „Ach ja?“

      „Aber ja doch.“

      Der Kommandant schaut uns unschuldig an und zuckt mit den Schultern.

      „Wenn er es sagt.“

      Damit steckt er das Messer ein und sie verschwinden. „Diese Banditenbande. Diese elenden Verbrecher. Korrupte Schweine. Ersticken sollen sie am Schnaps. Oder an die Front geschickt werden!“

      Kraftlos erheben wir uns und packen unsere leichter gewordenen Rucksäcke. Das abendliche Festmahl wird heute ausfallen.

      KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

      Auch diese Arbeit musste erledigt werden. Transportlisten, Anforderungsformulare, Fernschreibermeldungen, mit einem Wort: Papierkrieg. Hermann von Meyendorff hatte bislang den Verwaltungsaufwand, der mit dem modernen Krieg einherging, wie die Pest gemieden. Den Aufzeichnungen und Formularen, die man als Fliegeroffizier zu bearbeiten hatte, konnte er nicht entgehen, aber das waren nur ein paar Zettel, ein paar Notizen, ein paar Unterschriften, nichts Besonderes also, schließlich hatte man als Frontsoldat andere Sorgen. Nun aber, in seiner neuen Stellung, waren die Formulare und Listen sein Alltag. Etappendienst.

      Er saß an seinem kleinen Schreibtisch und blätterte die Anforderungslisten des Luftflottenstützpunktes Smyrna durch. Ersatzteile, Ersatzteile, unendliche Listen mit angeforderten Ersatzteilen. Von kleinen Schrauben bis zu gesamten Motoren, von Taschenlampen bis zu Flugzeugbomben. Der Krieg war gefräßig. Meyendorffs Aufgabe bestand nun seit knapp einem Monat darin, den Materialfraß des hungrigen Riesen zu verwalten. Er hasste diese Arbeit, er hasste diesen Schreibtisch, er hasste diese Formulare, aber er musste durchhalten. Es war seine Pflicht, auch an dieser Front zu bestehen. Immerhin war er der Graf von Meyendorff, ein Adeliger und Besitzer großer Ländereien, immerhin war er Träger der Goldenen Tapferkeitsmedaille erster Klasse, also ein Kriegsheld. In seinem Quartier lag eine unscheinbare Mappe, in der er die über ihn erschienenen Zeitungsartikel gesammelt hatte. Für ein paar Tage war seine Geschichte Thema Nummer eins in der Presse und sein Foto war auf allen Titelblättern zu sehen gewesen. Sogar die Hamburger und Berliner Zeitungsfritzen hatten an der Geschichte des k. u. k.-Oberleutnant von Meyendorff nicht


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