Die freundliche Revolution. Philippe Narval

Die freundliche Revolution - Philippe Narval


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wenige dominieren, weil sie am lautesten schreien, und wie die, die wirklich etwas zu sagen haben, aufgeben, noch bevor sie zu Wort kommen. Bei Diskussionen in den sozialen Medien und Internetforen ist das Realität und sogenannte Trolle haben uns dort übertrumpft. In den Parlamenten Europas werden Scheingefechte geführt, die Entscheidungen fallen oftmals nicht dort, sondern ganz woanders. Wer das weiß, geht zu den wahren Machtzentren, in die Ministerbüros und Kabinette, zu den Assistenten der Landeshauptleute oder ausgefuchsten Lobbyisten, die gleich eine Paketlösung für ein neues Gesetz oder eine neue Verordnung anbieten. Gewählt jedoch wurden die Beraterstäbe nie und sie haben auch gar keine Zeit und wohl auch kein Interesse, sich mit den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger auseinanderzusetzen. Gehetzt rennen sie von Termin zu Termin, von Schlagzeile zu Schlagzeile oder sichern sich gerade ihre Karriere nach diesem Job. Machterhalt um jeden Preis ist das Motto.

      Das Schiff der Demokratie ist also in Seenot geraten. Schauen wir dabei zu, wie es sinkt? Oder engagieren wir uns? Aber wie? Unter den zwei Prämissen, dass unsere Demokratie nur durch das Miteinander gerettet werden kann und auch politisch unerfahrene Bürger und Bürgerinnen in der Lage sind, gute Lösungen mitzuentwickeln, habe ich mich auf Spurensuche begeben und Menschen und Initiativen gefunden, die als Seenotretter für unsere Demokratie kämpfen. Ich habe auf meiner Reise gelernt, dass eine, nein viele freundliche Revolutionen im Gange sind, die es noch nicht in die Schlagzeilen der Medien geschafft haben. Überall in Europa gibt es Orte, an denen Politiker und Bürger wieder aufeinander zugehen anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen.

      Ich habe als Kind im Kleinen erlebt, was passiert, wenn Demokratie nicht gelingt. Heute weiß ich, dass es anders gegangen wäre. Dieses Buch soll Möglichkeiten einer neuen Kultur des Miteinander und der Beteiligung anbieten und ist gleichzeitig ein Stück weit eine Antwort auf die Frage nach dem Wie.

      EIGENE IRRWEGE ERKENNEN

      Von einem ereignisreichen Abend in New York, wie Ungleichheit und die Dynamiken sozialer Netzwerke unsere Demokratie gefährden und warum wir für die komplexen Probleme der Gegenwart neues politisches Handwerkszeug brauchen.

      Am frühen Abend des 8. November 2016 stand ich auf der Lower West Side in der kalten Herbstluft New Yorks in einer langen Menschenschlange. Zusammen mit Hunderten Menschen aus dem ganzen Land wartete ich nicht etwa auf die Präsentation eines neuen iPhones oder eine Filmpremiere, sondern ich wollte dabei sein, wie Geschichte geschrieben wird. Erstmals sollte eine Frau zur Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt werden und ein langer, zermürbender Wahlkampf seinen erwarteten Abschluss finden. Um das Javits Center, ein gläsernes Konferenzgebäude mit mehreren Hallen und Tausenden Quadratmetern Veranstaltungsfläche, waren Sicherheitskordons mit Hunderten Polizeikräften positioniert, die jede Akkreditierung genau prüften. Mit Sand gefüllte Lastwägen der Stadtverwaltung blockierten bei laufenden Motoren die Zufahrten zum Kongressgebäude, um einen Terroranschlag, wie er Nizza im Sommer davor erschüttert hatte, unmöglich zu machen.

      Dank der Einladung durch meinen Freund Robby Mook, Kampagnenleiter von Hillary for America, stand ich nun mit den Spitzen der Demokratischen Partei, Wegbegleitern von Hillary Clinton, Spendern und Kampagnenleuten aus den gesamten USA in einer Warteschlange an, um bei der Feier des Jahres dabei zu sein. Der elegant gekleideten Dame Mitte 50, die neben mir wartete, würde nach dem Wahlsieg wohl eine besondere Rolle zukommen. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie die persönliche Inneneinrichtungsberaterin von Hillary Clinton und würde nun bald die Gelegenheit bekommen, einem ganz besonderen Haus in Washington eine persönliche Note zu verleihen. Details zur Farbwahl der Vorhänge oder Inneneinrichtung konnte ich nicht in Erfahrung bringen, denn es ging schon weiter durch die Metalldetektoren und den Sicherheitscheck. Ich verabschiedete mich und spazierte an einer Halle mit Hunderten akkreditierten Journalisten aus der ganzen Welt vorbei in den hell erleuchteten Glasbau.

      Doch es kam anders, als wir alle zu Beginn dieses Abends gedacht hatten. Robby Mook, der zwei Jahre als Kampagnenleiter auf einen Wahlsieg hingearbeitet hatte, bekam ich genauso wenig zu Gesicht wie Hillary Clinton. Mit jeder Stunde verging den Besuchern im Javits Center die Feierlaune und allmählich machte sich Totengräberstimmung unter den geladenen Gästen breit. Um mich sah ich nur erstarrte, sprachlose Gesichter.

      Spätestens nach den Ereignissen dieses Abends wurde vielen klar, dass wir die Art, wie wir unsere Demokratie leben und gestalten, grundlegend erneuern müssen, wenn wir wollen, dass sie im Zeitalter des Populismus überlebt. Mit Donald Trump wurde jemand gewählt, der eine Art Anti-Politik betreibt. Trump wurde durch die konstante Erniedrigung anderer, durch permanente Eskalationen und durch das Anstacheln von negativen Emotionen und Stimmungen unter Nutzung oft falscher Meldungen groß. Die Logik vieler Fernsehsender, die die permanente Grenzüberschreitung suchen, um Zuschauer zu halten, gab ihm eine freie Werbeplattform.

      Im Hintergrund manipulierte die Trump-Kampagne auch gezielt und mit bisher nicht dagewesener Perfektion Wähler in den sozialen Netzwerken. Dennoch lief die Wahl wohl verfassungskonform ab und Trump gewann die nötige Mehrheit der Wahlmänner für sich, wenn auch nicht die Mehrheit der insgesamt abgegebenen Stimmen. Das Problem an seinem Sieg ist nicht, dass jemand mit ideologischen Ansichten gewählt wurde, die wir vielleicht nicht teilen. Es geht vielmehr darum, dass über ein demokratisches Verfahren jemand an die Macht kommen konnte, der keinen Respekt vor demokratischen Institutionen und Spielregeln hat. Die Demokratie kann sich unter einer Diktatur der Mehrheit selbst abschaffen.

      Dabei hatten einige schon vor der Wahl Trumps gewarnt, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Politik in der Bevölkerung und das Gefühl der Bürger, nicht repräsentiert zu sein, die Demokratie insgesamt gefährden würden. Martin Gilens von der Princeton University und Benjamin I. Page von der Northwestern University belegten 2014 in ihrer Studie zur US-amerikanischen Politik („Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens“), dass dieses Gefühl auch der Realität entspricht und Eliten einen überproportional großen Einfluss auf konkrete Politikentscheidungen in den USA haben. Wenn die Interessen der Mittelschicht oder unteren Mittelschicht auf die von Wirtschaftseliten oder Interessengruppen treffen, zögen die Bürger meist den Kürzeren, zeigten die Forscher in ihrer Analyse.

       Wachsende Ungleichheit gefährdet die Demokratie

      Gilens und Page arbeiteten mit einem einzigartigen Datensatz an Ergebnissen nationaler Umfragedaten zu spezifischen Politikfragen, die für den durchschnittlichen US-Bürger relevant und verständlich waren und im Zeitraum zwischen 1981 und 2002 gesammelt wurden. Die Ergebnisse der jeweiligen Befragungen, die immer eine Ja-/Nein- oder Pro-/Contra-Antwort ergaben, verglichen sie mit den konkreten Politikentscheidungen des Weißen Hauses oder des Kongresses zum jeweiligen Thema. Die Meinung der kleinen, wohlhabenden Schicht Amerikas, die man aus den Umfragedaten filtern konnte, deckte sich meist mit den endgültigen politischen Entscheidungen.

      Am Ende ihrer Studie, die in einem renommierten Fachjournal der American Political Science Association („Amerikanische Gesellschaft für Politikwissenschaft“) publiziert wurde, bekräftigten die beiden Wissenschaftler, dass Politikentscheidungen von mächtigen Wirtschaftsorganisationen und einer kleinen Gruppe Wohlhabender dominiert würden. Der Anspruch der USA, eine Demokratie zu sein, ist ihrer Meinung nach in Gefahr, auch wenn nach außen hin regelmäßige Wahlen, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sowie ein relativ breites Stimmrecht den Anschein erwecken, das sei nicht der Fall.

      Parallel dazu konnte man in den USA seit den 1970er-Jahren neben der wachsenden politischen Ungleichheit eine real ansteigende Ungleichheit bei den Einkommen nachweisen. Der französische Ökonom Thomas Piketty und sein Kollege Emmanuel Saez belegten unter anderem in einer 2014 im Wissenschaftsmagazin Science erschienenen Studie, dass der Abstand zwischen den Top 10 Prozent der Einkommensbezieher und dem Rest immer größer wurde. In den USA war seit den 1970er-Jahren der Anteil, den diese Elite am gesamten nationalen Lohnkuchen hatte, von knapp 35 auf fast 50 Prozent angestiegen. Die Reichen verdienten mehr, die Einkommen der Mittelschicht und der Armen stagnierten oder sanken. Diese Einkommensungleichheit ist gepaart mit einer wachsenden Ungleichheit bei den Vermögen. Piketty schätzt, dass die reichsten 10 Prozent unter den Amerikanern 70 Prozent des Gesamtvermögens im Land besitzen.

      Der


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