Die fremde Gestalt. Michael Lehofer
Worten: Die Neigung zur Selbstkorruption schwächt uns. Da genügt eine Kleinigkeit. Aber Jesus macht sich durch seine Reinheit und Authentizität unangreifbar. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht angreifbar. Das fasziniert mich, ist einfach schön.
HG: Das kommt dann auch später bei der Verhaftung Jesu in der Passionsgeschichte des Evangelisten Johannes vor. Die gesamte Kompanie stürzt zu Boden, als Jesus sich ihnen zu erkennen gibt mit dem schlichten Satz: „Ich bin es.“ Eigenartig. Warum eigentlich? Angesichts des Heiligen scheiden sich offensichtlich die Geister. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so: In der Begegnung mit einer wirklich großen Persönlichkeit können einem oft die eigene Herzensenge und Kleinkariertheit ganz deutlich bewusst werden. Angesichts der Liebe fühlt man den Schmerz über die eigene Lieblosigkeit. Das wäre ohnehin schon eine Form der Läuterung, aber es kann die Erfahrung einer Differenz auch zum Gegenteil führen, wie wir im Text lesen.
ML: Seine Landsleute sehen in ihm einen überheblichen Menschen. Die Überheblichkeit ist aber eine Projektion. Weil sie ihm gegenüber überheblich sind, bezeichnen sie ihn projektiv als überheblich und können ihn nicht anerkennen. Es gibt natürlich auch heute eine spirituelle Überheblichkeit. Das kann viele Facetten haben. Menschen etwa, die sich nicht wirklich im Leben finden können, die vielleicht in der Mitte des Lebens verlassen worden sind und dadurch den Eindruck gewonnen haben, das Leben hätte „Nein“ zu ihnen gesagt. Diese in ihren eigenen Augen „Verlierer“ finden sich dann oft in esoterischen religiösen Lehren. In diesen spirituellen Nischen gewinnen sie den Eindruck, aufgrund höheren Wissens plötzlich jemand zu sein und über anderen zu stehen. Auf solche Art gelebte religiöse Praxis ist natürlich ein psychologisierender Missbrauch des Religiösen.
HG: Oder diese Menschen versteigen sich in eine vermeintliche Rechtgläubigkeit – um im Namen dieser überlegenen Position andere zurechtzuweisen und zu verurteilen. Eine eingebildete Orthodoxie kann sehr hart werden. Interessant ist, dass Jesus die negative Reaktion selbst provoziert, wenn er sagt: „Ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Ihr werdet mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst, du hast es in Kafarnaum getan, warum nicht auch hier?“ Und dann bringt er einige Beispiele, die den Finger genau in diese Wunde legen. Scheinbar konnte Gott bei den Ausländern, bei den Fremden und denen, die sich nichts auf ihre Rechtgläubigkeit einbilden, mehr bewirken. Deren Erwartungen waren vermutlich reiner und weniger aggressiv. Von dieser Seite hat er nie die Forderung gehört: „Wir sind ja dein Volk, also bitte, mach schon!“ Ich habe großes Verständnis für die Vorgehensweise Jesu. Er hatte keine andere Chance, die eingebildeten Frommen aus der Reserve zu locken.
ML: Dazu eine kleine Geschichte: Ich habe einmal, schon selbst als Führungskraft, einen Chef gehabt, der aus persönlichen Gründen Vorbehalte mir gegenüber hatte. Sein Führungsstil war intrigant. Er hat immer wieder, auch vor anderen, bemerkt: „Ich habe von deinen Mitarbeitern dies und das gehört und ich sage dir, die stehen nicht hinter dir!“ Auf die Nachfrage „Ja, und wer hat dies und das gesagt?“ wollte er natürlich nichts sagen. Später habe ich begriffen, dass er das alles nur erfunden hatte. Damals beunruhigte mich jedoch seine Aussage.
Nach einer Zeit des Unbehagens mit seinem Vorgehen habe ich mir Folgendes einfallen lassen: Ich bin übergegangen, seine Idee detailliert auszuformulieren. Wenn er zum Beispiel gesagt hat: „Du hast keine Autorität und Loyalität in deinem Team!“, habe ich ausformuliert: „Nein, weißt du, ich bin halt eine so schlechte Führungskraft. Ich bekomme ganz zu Recht von meinen Mitarbeitern keine Loyalität und kann in Wahrheit gar keine Autorität haben. Die anderen machen sowieso, was sie wollen, aber ich gebe halt trotzdem mein Bestes. Es wird allerdings nie ausreichen.“ Genauso habe ich mich dargestellt. Ich habe mich selber natürlich gar nicht so gesehen, auf keinen Fall!
Mein Plan ist wirklich aufgegangen. Mein damaliger Chef musste erkennen, dass er mich mit seiner Intervention nicht mehr steuern konnte, und hat seine Intrigen, allerdings nur auf diese Weise, sein lassen. Wenn man die geheime Motivation von Menschen mit einem Machtanspruch explizit oder implizit anspricht, lähmt man die Macht. Dafür hassen dich die Betroffenen, haben jedoch keine Handhabe gegen dich. Weisheit und Einsicht sind für Machtmenschen eine Provokation, für andere eine Wohltat.
HG: Jesus wird jedenfalls nicht mehr nach Nazareth kommen. Das „Gnadenjahr“ und die Wunder werden sich außerhalb seiner Heimatstadt ereignen. Ohne eine ehrliche, nicht selten auch schmerzliche Selbsterkenntnis gibt es keine Öffnung des Himmels. Gott drängt sich nicht auf. Ich kann persönlich bestätigen, dass Menschen, die mit Kirche kaum etwas am Hut haben, in bestimmten Momenten für eine Berührung durch Gott offener sein können als jene, die schon lange im religiösen Habitus daherkommen. Scheinbar Ungläubige zeigen nicht selten eine Gottoffenheit, die mich als Kirchenprofi beschämt. Ich denke an einen transsexuellen Menschen, den ich kennenlernen durfte. Diese Person hat mich durch ihre Offenheit so beeindruckt, dass mir die Tränen gekommen sind. Das Leben kommt uns oft so verletzlich und zugleich zärtlich entgegen. Die Gefahr der falschen Routine im Umgang mit Menschen und mit dem Heiligen in ihnen besteht für uns alle.
4
Der typische Absolutheitsanspruch
Joh 8,47-59
Jesus sprach: Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid. Da antworteten ihm die Juden: Sagen wir nicht mit Recht: Du bist ein Samariter und von einem Dämon besessen? Jesus erwiderte: Ich bin von keinem Dämon besessen, sondern ich ehre meinen Vater; ihr aber schmäht mich. Ich suche nicht meine Ehre; doch es gibt einen, der sie sucht und der richtet. Amen, amen, ich sage euch: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht schauen. Da sagten die Juden zu ihm: Jetzt wissen wir, dass du von einem Dämon besessen bist. Abraham und die Propheten sind gestorben, du aber sagst: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht erleiden. Bist du etwa größer als unser Vater Abraham? Er ist gestorben und die Propheten sind gestorben. Für wen gibst du dich aus?
HG: Manchmal stolpert man in eine Auseinandersetzung hinein. Das ist beim vorliegenden Text der Fall. Es ist der Ausschnitt aus einem langen Streitgespräch Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, die seinen Absolutheitsanspruch infrage stellen. Für sie war klar: Entweder ist Jesus ein Verrückter, der die Tragweite seiner Ansprüche nicht einordnen kann, oder er ist ein gefährlicher Verführer der Massen. Eigentlich dämonisch. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand hinstellt und behauptet, aus Gott zu sein – und darüber hinaus noch allen, die an seinem Wort festhalten, ewiges Leben verheißt. Das ist doch insgesamt eine maßlose und gefährliche Übertreibung! Jesus hat mehrfach seine Lehrautorität über jene des Gesetzes gestellt. Die von ihm gebrauchte Formel lautete: „Im Gesetz steht, ich aber sage euch.“ Das ist Lästerung pur! Wer darf denn so etwas behaupten?
ML: Wenn man Künstler näher kennenlernt, die man zuvor nur aus ihren Ausstellungen und Werken gekannt hat, kann es vorkommen, dass man von ihrer Persönlichkeit enttäuscht ist. Man hat ihre Kunst als „heilig“ und als besonders berührend erlebt. Der Mensch dahinter jedoch kann dieser imaginierten Größe nicht entsprechen. Er muss sich mit all dem abmühen, mit dem man auch selbst zu tun und zu kämpfen hat. Gleichermaßen werde ich als Psychiater manchmal gefragt, wenn ich über die Phänomene des Scheiterns in meinem Leben erzähle: „Wie kann Ihnen das passieren, wo Sie in Bezug auf Lebensführung und Lebenskunst doch so kompetent sind? Wie kommt es, dass Sie Ihr eigenes Leben nicht bewältigen? Können wir Ihnen dann überhaupt noch glauben, was Sie sagen, oder schicken Sie uns quasi in den Krieg?“
HG: Eine wichtige Selbstrelativierung! Als ich entdeckt habe, dass ein ehemaliger guter Bekannter von mir schwer alkoholkrank in einem Haus der Caritas in Graz wohnt, war ich sehr betroffen. Ich wusste, dass ich in einer ähnlich schwierigen Situation sein könnte, wenn ich nicht Ressourcen und Wegbegleiter gehabt hätte, die mir einen anderen Weg ermöglicht haben. Diese heilsame Erkenntnis der eigenen Schwäche und Verwundbarkeit hat mir sehr geholfen. Das tatsächlich „Verwundete“ in uns beziehungsweise das Wissen um unsere Verwundbarkeit verbindet uns mit jenen, für die wir in der Seelsorge da sind. Wir wissen, dass auch wir in den entscheidenden Momenten jemanden brauchen, der uns beisteht oder ein befreiendes Wort zusagt.
ML: