Die fremde Gestalt. Michael Lehofer
alle in uns haben: Wir wollen den Schuldausgleich. Wenn es keinen Ausgleich von Schuld gibt, dann ist die Welt ungerecht. Davon sind wir überzeugt. Wenn wir davon betroffen sind, fühlen wir uns benachteiligt und zurückgesetzt. Wie viele Menschen haben das Gefühl der Benachteiligung derart internalisiert, dass sie als Ganzes davon erfasst wurden? Wohin der Drang nach Schuldausgleich führt, kann man bei Scheidungen erleben: zu zwei Verlierern. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass die gegenseitige Ent-Schuldigung etwas Schlechtes wäre, oder etwa, dass es Schuld nicht gäbe. Als Prinzip ist sie trotzdem sinnvoll und steht an der Wiege der Religionen.
Die Anerkennung von göttlichen Wesen führte in der Menschheitsgeschichte auch zum Opfergedanken. Mittels Opfern wollten die Menschen eine Schuld ihrerseits ausgleichen oder die göttliche Macht in die Pflicht nehmen: „Ich habe dir schon einen Ochsen gespendet, jetzt bist du mir Regen schuldig.“ Hier greift Jesus ein. Er stellt klar, dass dieser Gedanke zu kurz greift. Gott ist die Liebe, und in der Liebe ist schon alles erfüllt, alles ausgeglichen. Es gibt zwar noch einen Rest der alten Philosophie: die Idee der Reue. Aber das hat eher mit einem selbst zu tun. Wenn man bereut, kommt man mit sich selbst klar. Es gibt einen eigenen Begriff für den Schuldausgleich im Lichte der Liebe: Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist eine ungeheure Forderung, weil sie unseren wahrscheinlich evolutionär angelegten Reflexen widerspricht. Eine unvernünftige Forderung, die allerdings einer höheren Vernunft entspricht: der Vernunft der Liebe.
HG: Vielleicht ist die Überforderung auch Programm. Die Bergpredigt lässt sich jedenfalls nicht als Theorie des Zusammenlebens erfassen. Sie wird erst „verständlich“, wenn sich jemand auf dieses Neue, vollkommen Quere der Person und Lebenspraxis Jesu einzulassen beginnt. Es wird immer nur in einer persönlichen Annäherung gelingen. Ich möchte als Beispiel Etty Hillesum nennen, eine Jüdin, die in ganz spezifischer Weise etwas vom hohen Anspruch Jesu gelebt hat. Wir haben den Auftrag, „dieser Welt, die so voller Dissonanzen ist, nicht den kleinsten Missklang hinzuzufügen“, schreibt sie am 29. Mai 1942 in ihr Tagebuch. Die niederländische Lehrerin wurde durch ihre posthum veröffentlichten Tagebücher bekannt. Sie lebte in Amsterdam und arbeitete während der Naziherrschaft kurzfristig auch im sogenannten Judenrat. Am 30. November 1943 wurde sie im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Ihr tiefsinniges Fragen nach Gott und ihre beständige Mühe, in einer Zeit der offenkundigen Aggression gegenüber Juden und anderen Minderheiten nicht in die Haltung einer Gegenaggression und Rache zu verfallen, ist extrem beeindruckend. Etty wollte „ein Pflaster auf vielen Wunden sein“ (Eintragung vom 13. Oktober 1942) und stellt die vielleicht schönste Frage zur Berechtigung unseres Daseins auf dieser Erde: „Früchte tragen, und Blumen, auf jedem Flecken Erde, wo man gepflanzt wurde – wäre das nicht der Sinn? Und sollen wir nicht mithelfen, diesen Sinn zu verwirklichen?“
ML: Dieser überfordernde Gegenentwurf zu dem, wie wir gewöhnlich ticken, findet sich auch in einer anderen religiösen Tradition wieder, im Taoismus. Wu Wei meint: „Handeln ist Nicht-Handeln.“ Man sollte gemäß dieser Lehre darauf verzichten, gegen die Natur zu handeln. Der Begriff meint in etwa das, was ich als rezeptive Aktivität bezeichne: ein Kommunikationsstil, der nicht aus der eigenen Inszenierung, sondern energetisch aus der Wahrnehmung des anderen entsteht. Gewaltlose Kommunikation oder erfüllende sexuelle Begegnung beruhen auf dieser Kompetenz. Man findet also schon im Taoismus, Jahrhunderte vor Jesus, eine gedankliche Wegbereitung dieses gewaltigen Gegenentwurfs zu dem, was wir gemeinhin als richtig empfinden.
HG: Wir kommen nicht darum herum: Die von Jesus propagierte Feindesliebe ist ein harter Brocken. Ein wesentlicher Schlüssel zum „Verstehen“ ist das neue Verhältnis zu Gott, das uns durch Jesus geschenkt wurde. Gott ist der Vater, der maßlos – ich möchte sagen „verrückt“ – gütig ist, auch gegenüber den Undankbaren und Bösen. Wenn wir das Leben beobachten, bestätigt sich das. Es gibt kein unmittelbares Eingreifen Gottes – kein Belohnen oder Bestrafen menschlichen Verhaltens, wie auch immer ethisch hochstehend oder verwerflich es ist.
Gott schenkt allen alles. Gott geht verschwenderisch gut mit denen um, die es in den Augen durchschnittlich bürgerlicher Moralvorstellungen sicher nicht verdient haben. Feindesliebe bedeutet im Grunde ein Nachahmen dieser Verrücktheit Gottes. Diese geht um die in allen Religionen geläufige Goldene Regel weit hinaus. Jesus propagiert Gottes verrückte Barmherzigkeit als Maßstab für unser Leben! Jesus möchte uns, die „Hörenden“, dazu bewegen, die Art des Handelns seines und unseres himmlischen Vaters nachzuahmen. An der neuen alternativen Art, wie wir uns verhalten, sollen die Menschen erkennen, dass wir Töchter und Söhne seines Vaters sind.
ML: Sind der Appell „Tut denen Gutes, die euch hassen!“ und die Anweisung „Betet für die, die euch beschimpfen!“ wirklich so provokant? Und ist die Forderung, dass wir dem, „der uns den Mantel wegnimmt“, auch noch das Hemd zu überlassen, wirklich so radikal? Schnell fragt man: „Wer lebt denn so, wer kann dem im Alltag entsprechen?“ Ich meine, mehr Menschen, als wir glauben. Eltern leben so, speziell dann, wenn sie mit Pubertierenden zu tun haben. Wahrhaft Liebende leben so. Freundschaft funktioniert so. Da wird im Idealfall nichts aufgerechnet, Verletzungen werden angenommen, aber nicht nachgetragen. Vergebung geschieht, über den eigenen Schatten hinweg. Sobald die Innigkeit passt, handeln wir automatisch nicht nach unseren Gerechtigkeitsprinzipien, sondern im Sinne der göttlichen Irrationalität.
HG: Ich möchte speziell noch zwei Textzeilen hervorheben, die zu vielen Interpretationen inspirieren. Es geht um das sprichwörtlich gewordene Hinhalten der anderen Wange. Vielleicht ist die von Jesus geforderte, radikal andere Reaktion auch ein Konfrontieren des Schlägers mit dem, was er schon getan hat: Schau, hier ist auch noch diese Wange! Sieh her, du schlägst einen Menschen! Der Evangelist Markus unterstreicht dies mit der bewussten Nennung der rechten Wange: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte auch die linke hin.“ Auf die rechte Wange schlage ich als Rechtshänder mit dem Handrücken. Es ist dies nicht nur eine physische Gewaltanwendung, sondern eine herbe Geste der Herablassung. Der Täter muss den Geschlagenen gar nicht anschauen, er „behandelt“ ihn wie einen Sklaven. Und für das Beispiel von Mantel und Hemd ist der Hintergrund die Gerichtsverhandlung. Wenn der Täter dem Opfer auch noch das Hemd wegnimmt, steht dieses nackt da. Allen Anwesenden würde damit unmissverständlich klar werden, dass der Täter tatsächlich ein Unrecht begangen hat. Jesus stellt also auf seine friedvolle und doch so radikale Weise die typischen Reaktionsmuster von Täter und Opfer infrage.
ML: Ein wichtiger Hinweis. Wie sehr leiden wir doch darunter, wenn wir mit unserem erlittenen Leid und mit unseren Empfindungen von Freude gegenseitig nicht „ansichtig“, also sichtbar, geworden sind. Jesus ermutigt uns, füreinander aus Liebe und Mitgefühl transparent zu werden. Wir sollten uns darin nicht beirren lassen.
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