Das Leben ist ein tiefer Fluss. Rose Zaddach
eilte raschen Schrittes nach draußen, als würde das ersehnte Italien mit dem Glühen der Goldorangen auf sie warten.
Ihr Mann, Professor der nahen Universitätsstadt, von angenehmer Gestalt, groß und schlank, graue Schläfen, grüßte Paula und die anderen Anwesenden freundlich und fasste dann seine Frau sanft unter dem Arm. Dann gingen sie davon, traten den Heimweg in die beginnende Dunkelheit an, während die Anderen nachdenklich in alle Himmelsrichtungen davonstrebten.
Man kann nicht sagen, dass Charlotte abgöttisch an ihrem Ehemann hing. Nein, sie war durchaus emanzipiert. Suchte den Kontakt mit der Gesellschaft, setzte sich für die Kunst ein, sammelte Bilder bekannter und unbekannter Künstler. Ihr großes Haus, am Hang gelegen mit weitem Blick über das Tal, war voll davon. Doch, wo sie auch auftauchte, sie ließ sich nach Möglichkeit von ihm, ihrem Ehemann, begleiten. Er war ihr Schatten.
Nur in den letzten Wochen des endenden Jahres war er nicht mehr zu sehen. Sie kam, übel gelaunt oder nervös gestimmt, allein zu den Treffen.
In dieser Zeit verlor sie eines Tages in der Versammlung des Kunstforums die Beherrschung, die Contenance, wie man zu sagen pflegte. Es kam aus heiterem Himmel. Ein allgemeiner Streit war entstanden, eine heftige Diskussion, die mit einem Zornesausbruch ihrerseits endete. Sie glich plötzlich einem bis dahin ruhigen Vulkan, der unvorbereitet Feuer spie und Lava in seine Umgebung ergoss.
Aber es kam noch mehr zum Ausdruck. Ein innerer Zusammenbruch deutete sich an. Sie war in einem Spannungszustand, der für alle Anwesenden nicht zu übersehen war. „Die kleinbürgerliche und engstirnige Diskussion, die Ignoranz und Begrenztheit der hier Versammelten habe den Punkt der Unerträglichkeit erreicht“, stieß sie mit bleichen Lippen hervor. Schweißperlen traten auf ihre Stirn und Tränen der Wut in ihre Augen. Mit mühsamer Beherrschung verließ sie den Raum.
Sie kehrte jedoch noch einmal zu der nun stillgewordenen Versammlung zurück, um ihren Hut zu holen, den sie vergessen hatte. Diesmal war es ein weinroter Hut, denn Paula erinnerte sich noch genau an die Szene und hatte das Bild lebhaft vor Augen. Sie setzte den Hut auf ihr zorniges Haupt.
Breitrandig loderte er um ihr fahles Gesicht. Sie sprach kein Wort mehr und verschwand, währenddessen jemand in der Versammlung laut und schrill zu lachen begann, und alle irgendwann aus Hilflosigkeit einstimmten.
Der Hut war es, weshalb gelacht wurde. Hauptsächlich war es der Hut gewesen, der das Lachen hervorgerufen hatte und der die brüske Verabschiedung mit einem ironischen Rascheln seiner Federn begleitete.
„Ja, vergessen Sie den Hut nicht!“ hatte noch jemand in die Stille gerufen. Dann wurde Charlotte lange nicht mehr wiedergesehen. Sie verschwand förmlich aus den Augen der Kleinstadt. Man hörte vages Gemunkel. Genaueres kam Paula aber nicht zu Ohren. Sie hatte Besseres vor, als sich um Ratsch und Tratsch zu kümmern. Hatte mit ihrem eigenen Leben genug zu tun.
Ungefähr ein Jahr sollte es dauern, bis Paula sie wieder traf auf einer der engen Gassen hinter dem Marktplatz, welche sie aus Gründen der Abkürzung häufig ging. Es war wieder in den Abendstunden.
Paula erkannte sie zunächst nicht. Sie sah völlig verändert aus. Erschrocken blieb Paula stehen und blickte ihr nach, während Charlotte B., ohne ihre Augen zu heben, an ihr vorbei in entgegengesetzter Richtung verschwand. Paula konnte die drastische Veränderung kaum fassen. Sie erschien ihr wie eine andere, völlig fremde Person.
Hatte Paula sich getäuscht?
Gebannt hatte Paula noch lange hinter Charlotte hergeschaut. Ihr dunkles Haar war ergraut und hing in Strähnen um ihr Gesicht, ihr Körper war dicklich geworden und in grobe und sackähnliche Kleidung gehüllt. Paula lauschte ihren schweren Schritten mit den plumpen Schnürschuhen hinterher.
Wo waren die krokodilledernen Stöckelschuhe oder Lackschuhe geblieben, die Paula immer an ihr bewundert hatte? Wo war der grazile Gang? Noch nie hatte Paula eine solch abrupte Veränderung an einem Menschen wahrgenommen.
Der Verlust jeglicher Eleganz, die Paula früher an ihr so bewundert hatte, die plötzliche Unförmigkeit ihres ehemals schlanken Körpers, die nach außen sichtbare Wesensveränderung eines hoch ästhetischen Menschen in eine grobe und derbe Gestalt hatten Paula verwirrt.
Sie war langsam in der Dämmerung nach Hause gegangen. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen. Der Eindruck von Tragik und von selbstzerstörerischem Trotz ließ Paula nicht los. Sie trank einen Cognac und noch einen zweiten und grübelte darüber nach, was die Ursache für diese Verwandlung gewesen sein konnte.
Sie rief eine Freundin an. Sie kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass es auf keinen Fall die Abschiedsszene im Kunstverein oder das Lachen wegen des Hutes gewesen sein konnten. Es musste andere, noch tiefer liegende Gründe geben.
War sie erkrankt?
Nahm sie starke Medikamente?
Trank sie Alkohol? Hatte sie einen Klinikaufenthalt hinter sich? Eine psychische Krise? Und wo war ihr Ehemann? Man sah ihn nicht mehr.
Umso häufiger begegnete Paula jetzt Charlotte wieder auf den Straßen und jedes Mal erschrak Paula über die immer gleichbleibende Veränderung: in Säcke gehüllt, das Haupt grau wie mit Asche bedeckt, in alter und abgetragener Kleidung, die aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammen musste stapfte sie durch den Ort.
Sie ging jedes Mal mit gesenktem Blick ihren Weg.
Manchmal nur sah sie kurz auf, um notdürftig zu grüßen. Aber ihre Augen fixierten unverzüglich Sekunden später wieder den Straßenboden, dass Paula nicht wagte, sie anzusprechen.
So war das nun eine geraume Zeit: Paula sah sie, erschrak, murmelte einen Gruß, wartete, ob sie kurz stehen blieb, ja lauerte darauf, bedauerte, dass sich keine Gelegenheit des Gesprächs ergab, grübelte ihr nach und vergaß sie wieder – bis zur nächsten Begegnung. Den Ehemann sah man gar nicht mehr. Er blieb verschwunden.
Nun gingen auch die Gerüchte im Ort umher, brodelten und kochten über. Sie habe ihren Mann in einem lauten und wilden Anfall der Verzweiflung aus dem Haus geworfen.
Das Haus gehöre ihr allein.
Erbe ihrer reichen Familie.
Hinter ihren Türen verwalte sie weiter ihre wertvollsten Kunstschätze und Sammlungen.
Sie habe ihn samt seinen Koffern und der Aktentasche vor die Tür gesetzt, ausgesperrt, ihm bei Nacht und Nebel die Kleidung aus dem Fenster nachgeworfen: Anzüge, Hemden, Schuhe und Socken. Er solle nie mehr das Haus betreten.
Er habe frierend bei sternklarem Himmel vor der Tür gestanden und sie um Einlass gebeten, dann seine restlichen Sachen soweit als möglich in die Koffer verstaut, sei eine knappe Stunde später in ein Taxi gestiegen und nie mehr im Ort gesehen worden. Lebe jetzt wahrscheinlich in der Toskana oder in Sizilien oder auf Gran Canaria, vermutete man. Mit einer Geliebten, einer jungen Studentin von vierundzwanzig Jahren.
Von dem heimlichen Skandal, der erst spät ans Licht getreten war, vor allem, wie er sich zugetragen hatte, erzählte man lange hinter vorgehaltener Hand.
Paula war in dieser Zeit zu sehr beschäftigt gewesen, sodass es dauerte, bis ihr die Geschichte zu Ohren kam.
Ja, ihr Mann beabsichtige mittlerweile, sich wieder neu zu binden, erzählte ein Bekannter im Ort, mit dem er hin und wieder telefonierte, um letzte Formalitäten zu erledigen.
Solche Gespräche gingen um, besonders, weil die Beiden zuvor als leuchtendes Beispiel der Liebe galten. Man bedauerte Charlotte. Man sah, dass sie nicht mehr auf die Beine kam. Immer noch war sie am Boden zerstört.
Sie ließ keine hilfreichen Hände oder tröstenden Worte an sich heran. Sie verwehrte das ihr entgegen gebrachte Mitgefühl. Sie umging jede Konversation. Sie besuchte weder den Kulturkreis im Ort, noch nahm sie an anderen öffentlichen Ereignissen teil. Doch es umgab sie so etwas wie eine Aura ergreifender Größe und Wahrhaftigkeit. Ihr Äußeres offenbarte ihren inneren Zustand. Sie verbarg ihn nicht. Dies blieb über längere Zeit bestehen und veränderte sich nicht – bis zu jenem klassischen Konzert, das unter Organisation und Beteiligung des Kunstforums aufgeführt wurde.
Man