Die Forsyte-Saga. John Galsworthy
Jugend, so weit vergessen hatte, Septimus Small, einen Mann von schwächlicher Konstitution, zu heiraten. Sie hatte ihn um viele Jahre überlebt. Jetzt wohnte sie mit ihrer älteren und jüngeren Schwester im Hause ihres sechsten und jüngsten Bruders Timothy am Bayswater Road. Jede dieser Damen hielt einen Fächer in der Hand und betonte durch eine Farbennote, eine effektvolle Feder oder Brosche das Festliche der Gelegenheit.
Mitten im Zimmer, unter dem Kronleuchter, stand, wie es sich für einen Wirt gebührt, das Haupt der Familie, der alte Jolyon selbst. Mit seinen achtzig Jahren, dem schönen weißen Haar, der hochgewölbten Stirn, den kleinen dunkelgrauen Augen und einem mächtigen, herabhängenden Schnurrbart, der über die ganze Breite seiner starken Kinnladen reichte, glich er einem Patriarchen, und trotz der hagern Wangen und eingefallenen Schläfen schien er über eine unversiegbare Jugendkraft zu verfügen. Er hielt sich außerordentlich aufrecht, seine scharfen ruhigen Augen hatten nichts von ihrem hellen Glanz verloren, und er erweckte so, dem Zweifel und der Unentschlossenheit unbedeutenderer Menschen gegenüber, den Eindruck von Überlegenheit. Nachdem er unzählige Jahre hindurch seinen eigenen Weg gegangen war, hatte er ein unbestrittenes Recht darauf erworben, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, Bedenken oder Mißtrauen zu hegen.
Zwischen ihm und den vier andern Brüdern, James, Swithin, Nicholas und Roger, die sich alle eingefunden hatten, herrschte große Verschiedenheit und große Ähnlichkeit. Jeder einzelne dieser Brüder war sehr verschieden von den andern, und doch glichen sie sich alle.
Bei aller Abweichung in Zügen und Ausdruck dieser fünf Gesichter war eine gewisse Festigkeit des Kinns auffallend, das trotz äußerlicher Unterschiede als ein Rassenmerkmal – die wahre Zunftmarke und Gewähr für den Familienwohlstand – gelten konnte, aber zu lange bestand, und aus zu ferner Vorzeit stammte, um nachgewiesen und festgestellt zu werden.
Bei der jüngeren Generation, dem großen stierähnlichen George, dem bleichen kraftvollen Archibald, dem jungen Nicholas mit seinem liebenswürdig schüchternen Eigensinn und dem ernsten, in seiner Entschiedenheit fast albernen Eustace, bemerkte man, weniger ausgesprochen vielleicht, aber unverkennbar, dasselbe Merkmal – ein unausrottbares Zeichen des Familiencharakters.
Auf allen diesen ungleichartigen und doch so ähnlichen Gesichtern hatte sich im Laufe des Nachmittags mitunter ein Ausdruck des Argwohns gezeigt, dessen Gegenstand offenbar der Mann war, den kennen zu lernen, sie sich hier versammelt hatten.
Sie wußten, daß Philip Bosinney ein junger Mann ohne Vermögen war, aber Forsytesche Mädchen hatten sich auch früher mit solchen verlobt und sie dann auch wirklich geheiratet. Dies also war nicht eigentlich der Grund ihrer Besorgnis. Sie hätten den Ursprung dieser durch den Nebel des Familienklatsches verdunkelten Bangigkeit nicht erklären können. Jedenfalls ging das Gerücht, er habe seinen Antrittsbesuch bei den Tanten Ann, Hester und Juley in einem weichen grauen Hut gemacht! – in einem weichen grauen Hut! und nicht einmal in einem neuen – sondern in einem verstaubten, formlosen Ding. »Unglaublich, nicht wahr – sehr merkwürdig!« Als Tante Hester durch den kleinen dunklen Flur ging, hatte sie versucht (sie war ziemlich kurzsichtig) das Ding vom Stuhl hinunter zu scheuchen, da sie es für eine gemeine fremde Katze hielt – ihr Tommy hatte so kompromittierende Freunde! Sie war ganz verstört, als es sich nicht rührte.
Wie ein Künstler beständig die bedeutsame Kleinigkeit zu entdecken sucht, in der sich der ganze Charakter einer Szene, eines Ortes oder eines Individuums verkörpert, waren die Forsytes, diese unbewußten Künstler, ganz intuitiv an diesem Hute haften geblieben. Das war für sie die bedeutsame Kleinigkeit, der kleine Nebenumstand, der die Bedeutung der ganzen Sache in sich faßt; denn jeder hatte sich gefragt: »Hättest du diesen Besuch in solchem Hut gemacht?« und jeder hatte erwidert »Nein!« und einige mit mehr Phantasie hatten hinzugefügt: »So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen!«
Als George die Geschichte hörte, grinste er. Mit dem Hut hatte der junge Mann sich offenbar einen Scherz erlaubt! Er selbst verstand sich auf dergleichen.
»Sehr kühn!« sagte er, »dieser wilde Bukanier!«
Und dieses mot, »der Bukanier« ging von Mund zu Mund, bis er die Lieblingsform wurde, mit der man auf Bosinney anspielte.
Die Tanten machten June später Vorwürfe wegen des Hutes.
»Du hättest das nicht zulassen dürfen, mein Kind!« hatten sie gesagt.
Auf ihre herrisch lebhafte Art, in der sich die ganze Willenskraft des kleinen Geschöpfes offenbarte, hatte June geantwortet:
»Ach, was schadet das? Phil weiß nie, was er anhat.«
Niemand hätte eine so verwegene Antwort für möglich gehalten. Ein Mann sollte nicht wissen was er anhat? Unglaublich!
Wer war denn eigentlich dieser junge Mensch, der durch seine Verlobung mit June, der anerkannten Erbin des alten Jolyon, so gut für sich gesorgt hatte? Er war Architekt, das war an sich doch kein genügender Grund einen solchen Hut zu tragen. Von den Forsytes war zufällig keiner Architekt, aber einer von ihnen kannte zwei Architekten, die zu einem Pflichtbesuch in der Londoner Saison niemals solch einen Hut getragen hätten. Verdächtig – sehr verdächtig!
June natürlich fand gar nichts darin, aber sie stand auch, trotz ihrer neunzehn Jahre, in einem besondern Ruf. Hatte sie nicht zu Soames' Frau – die immer so wundervoll angezogen ging – gesagt, Federn wären ordinär? Und wirklich hatte Soames' Frau seitdem keine Federn mehr getragen, so schrecklich unverfroren war die liebe June.
Diese Besorgnisse, diese Mißbilligung und dies durchaus echte Mißtrauen hinderten die Forsytes jedoch nicht, sich auf die Einladung des alten Jolyon hin einzufinden. Ein Empfang in Stanhope Gate war eine große Seltenheit, seit dem Tode seiner Frau vor acht Jahren hatte keiner mehr stattgefunden.
Noch nie hatte sich dort eine so zahlreiche Gesellschaft versammelt, denn trotz aller Verschiedenheit im Geheimen eng mit einander verknüpft, hatten sie sich gegen eine gemeinsame Gefahr gewappnet. Wie eine Herde, wenn ein Hund ins Feld läuft, standen sie Kopf an Kopf und Schulter an Schulter, bereit den Eindringling niederzurennen und totzutrampeln. Offenbar waren sie auch gekommen um herauszufinden, welche Art von Geschenken schließlich wohl von ihnen erwartet wurde. Regelten sie die Frage der Hochzeitsgeschenke auch gewöhnlich in dieser Art: – »Was schenkst du? Nicholas schenkt Löffel!« – so kam es doch sehr auf den Bräutigam an. War er gewandt, geschniegelt und von gefälligem Aussehen, so hielten sie es für geboten ihm auch hübsche Geschenke zu machen, das durfte er von ihnen erwarten. Zuletzt gab jeder freilich genau das, was durch eine Art von Familienübereinkommen als passend und schicklich festgesetzt wurde, wie die Preise auf der Börse festgesetzt werden, wobei die genauen Einzelheiten in Timothys behaglichem, am Park gelegenen Haus aus roten Ziegeln näher bestimmt wurden, wo die Tanten Ann, Hester und Juley wohnten.
Die Unruhe der Familie Forsyte war durch die einfache Erwähnung des Hutes gerechtfertigt. Hätte nicht jede Familie des besseren Mittelstandes, die den ihr gebührenden äußeren Anstand zu wahren wußte, es für unmöglich und unrecht gehalten, sich hier nicht beunruhigt zu fühlen!
Der Urheber dieser Unruhe stand im Gespräch mit June an der nächsten Tür. Sein lockiges Haar war zerzaust, und er sah aus, als fände er alles ungewöhnlich, was um ihn her vorging. Seine Miene verriet auch, daß er seinen Spaß daran hatte.
George, der sich halblaut mit seinem Bruder Eustace unterhielt, sagte:
»Er sieht aus, als wolle er sich aus dem Staube machen – der flotte Bukanier!«
Dieser »sehr sonderbar aussehende Mann«, wie Mrs. Small ihn hernach nannte, war von mittlerer Größe und kräftig gebaut, hatte ein bleiches, braunes Gesicht, einen staubfarbenen Schnurrbart, sehr vorstehende Backenknochen und hohle Wangen. Seine Stirn stieg bis zum Wirbel des Kopfes hinauf und trat über den Augen in Höckern hervor, wie man es an Löwenstirnen im Zoo sehen kann. Er hatte Augen von der Farbe des Sherry, mit einem zuweilen beunruhigend zerstreuten Blick. Der Kutscher des alten Jolyon sollte, nachdem er June und Bosinney ins Theater gefahren hatte, zum Butler, dem Haushofmeister, gesagt haben:
»Aus dem wer ich nich klug. Mir kommt er wahrhaftig