Die Forsyte-Saga. John Galsworthy
Ergüsse nicht hören – Ergüsse, die das Benehmen des Mannes von Welt zum Überfließen gebracht, gleich einer Flut. Er konnte Irenens Erschauern nicht sehen, als wäre sie eines ihrer Kleidungsstücke beraubt, noch ihre Augen, dunkel und traurig, wie die Augen eines geschlagenen Kindes. Er konnte nicht hören, wie Bosinney unaufhörlich inständig bat und bat; konnte ihr plötzliches leises Weinen nicht hören, noch sehen, wie der arme hungrig blickende Teufel verschüchtert und zitternd, ihre Hand demütig berührte.
Am Montpellier Square fuhr ihr Kutscher, den Weisungen buchstäblich folgend, getreulich hinter der Droschke vor ihnen her.
Darties sahen Bosinney herausspringen, dann Irene ihm folgen und mit gesenktem Kopf die Stufen hinaneilen. Sie hatte offenbar ihren Schlüssel in der Hand, denn sie verschwand sogleich. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sich umgewandt, um mit Bosinney zu sprechen oder nicht.
Dieser ging an ihrer Droschke vorüber; beide Gatten konnten sein Gesicht im Licht einer Straßenlaterne deutlich sehen. Es kämpfte mit einer heftigen Bewegung.
»Gute Nacht, Mr. Bosinney!« rief Winifred.
Bosinney stutzte, riß seinen Hut herunter und eilte davon. Er hatte ihre Existenz offenbar vergessen.
»Da!« sagte Dartie, »hast du das Gesicht der Bestie gesehen? Was habe ich gesagt? Schöne Geschichten!« Er machte sich die Gelegenheit zunutze.
So sicher war es zu einer Krisis in der Droschke gekommen, daß Winifred nicht imstande war ihre Theorie zu verteidigen.
»Ich werde nicht darüber sprechen,« sagte sie. »Es hat doch keinen Zweck viel Wesens davon zu machen!«
Mit dieser Anschauung stimmte Dartie ganz überein. Da er James als Privatrückhalt betrachtete, war er durchaus dagegen, daß er durch die Nöte anderer beunruhigt wurde.
»Sehr richtig,« sagte er, »mag Soames selber aufpassen. Er hat ganz das Zeug dazu!«
Damit betraten Darties ihre Wohnung, deren Miete James bezahlte, und suchten die wohlverdiente Ruhe. Es war Mitternacht, und kein Forsyte blieb draußen in den Straßen, um Bosinneys Wanderungen auszuspähen, ihn zurückkehren zu sehen, am Gitter des Square Gartens, fern vom Licht der Straßenlaternen im Schatten der Bäume stehen zu sehen und das Haus anstarren, wo sie im Dunkeln verborgen war, die für einen einzigen Augenblick zu sehen, er die Welt gegeben hätte – sie, die für ihn jetzt der Hauch der Linden, der Inbegriff von Licht und Dunkel, der Schlag seines eigenen Herzens selber war.
Zehntes Kapitel
Diagnose eines Forsyte
Es liegt in der Natur eines Forsyte nicht zu wissen, daß er ein Forsyte ist; aber der junge Jolyon war sich wohl bewußt einer zu sein. Er war sich bis nach dem entscheidenden Schritt, der ihn zu einem Ausgestoßenen gemacht, nicht klar darüber geworden; doch seitdem hatte das Bewußtsein davon ihn nicht wieder verlassen. Er fühlte es bei seiner Vermählung, bei all seinem Tun und seiner zweiten Frau gegenüber, die wohlgemerkt keine Forsyte war.
Er wußte, daß wenn er nicht einen so offenen Blick für das gehabt was er brauchte und die Zähigkeit besessen hätte, daran festzuhalten, wenn er die Torheit zu verschwenden, wofür er einen so hohen Preis gezahlt, nicht erkannt hätte – mit anderen Worten, wenn er den »Sinn für Besitz« nicht gehabt hätte – er sie bei all den finanziellen Sorgen, der Nichtachtung und üblen Nachreden dieser fünfzehn Jahre nie hätte bei sich behalten können (vielleicht nie den Wunsch gehabt hätte, sie bei sich zu behalten); daß er sie nie dazu bewegt haben würde ihn nach dem Tode seiner ersten Frau zu heiraten; daß er dies alles nie hätte durchmachen und sich nie, zwar dürftig aber lächelnd, wieder hätte emporhelfen können.
Er gehörte zu jenen Menschen, die mit kreuzweise untergeschlagenen Beinen gleich chinesischen Miniaturgötzen im Gehäuse ihres eigenen Herzens sitzen, und ewig zweifelnd über sich selbst lächeln. Doch dieses beständige, so vertraute Lächeln widersprach nicht etwa seinen Handlungen, die wie sein Kinn und sein Temperament ein ganz sonderbares Gemisch von Sanftmut und Entschiedenheit waren.
Er war sich auch vollbewußt, in seiner Arbeit ein Forsyte zu sein, in diesem Malen von Aquarellen, worauf er zu seinem eigenen Erstaunen soviel Energie verwandte, denn ihm war, als könne er ein so unpraktisches Tun nicht völlig ernst nehmen, und es beunruhigte ihn immer seltsam, daß er nicht mehr damit verdienen konnte.
Und dies Bewußtsein, was es bedeutete ein Forsyte zu sein, veranlaßte ihn darum auch, den folgenden Brief des alten Jolyon mit einem gemischten Gefühl von Sympathie und Entrüstung zu begrüßen:
»Sheldrake House.
Broadstairs.
1. Juli.
Mein lieber Jo!
(Papas Handschrift hatte sich in diesen dreißig Jahren, seit er sich ihrer erinnerte, nur sehr wenig verändert.)
»Wir sind jetzt seit vierzehn Tagen hier und haben im Ganzen gutes Wetter gehabt. Die Luft ist stärkend, aber meine Leber ist nicht in Ordnung, und ich werde froh sein nach der Stadt zurück zu kommen. Von June kann ich nicht viel sagen; mit ihrer Gesundheit und Stimmung geht es nicht sonderlich, und ich weiß nicht, was daraus werden soll. Sie sagt nichts, aber man merkt, daß diese Verlobung sie fortwährend beschäftigt, die eine Verlobung ist und doch wieder keine oder – weiß der liebe Himmel was sie ist. Ich zweifle ernstlich, ob man sie unter den jetzigen Verhältnissen wieder nach London zurücklassen soll, aber sie ist so eigenwillig, daß es ihr jeden Augenblick einfallen könnte hinzufahren. Eigentlich müßte jemand mit Bosinney sprechen und zu erfahren suchen, was er vorhat. Ich selbst fürchte mich davor, denn ich würde ihm sicherlich auf die Finger klopfen, aber ich dachte, daß du, da du ihn vom Klub her kennst, ein Wörtchen mit ihm reden könntest und Dich überzeugen, was der Bursche treibt. Du darfst June natürlich in keiner Weise bloßstellen. Es würde mich freuen im Laufe einiger Tage von Dir zu hören, ob es Dir gelungen ist, eine Auskunft zu erhalten. Die Sachlage bekümmert mich sehr, und es quält mich in den Nächten. Mit Grüßen für Holly und Jolly
Dein treuer Vater
Jolyon Forsyte.«
Der junge Jolyon grübelte so lange und ernst über diesem Briefe, daß seine Frau ihn nach der Ursache seines Nachdenkens fragte, aber er erwiderte: »Es ist nichts.«
Es war sein fester Grundsatz, June niemals zu erwähnen. Sie hätte sich beunruhigt fühlen können, und er wußte nicht wie sie es aufnehmen würde. Er beeilte sich darum alle Spuren seiner Versunkenheit zu verwischen, war aber darin ebenso erfolgreich, wie sein Vater es gewesen wäre, denn er hatte des alten Jolyon ganze Durchsichtigkeit in Bezug auf Angelegenheiten häuslicher Finesse geerbt. Und die junge Mrs. Jolyon ging bei ihren Beschäftigungen im Hause mit festgeschlossenen Lippen umher und warf verstohlen unergründliche Blicke auf ihn.
Am Nachmittag begab er sich mit dem Brief in der Tasche, doch ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, in den Klub.
Jemand auf ›seine Absichten‹ hin zu prüfen, war ihm ganz besonders unangenehm, und seine eigene anomale Lage war nicht geeignet das Unangenehme zu vermindern. Es sah seiner Familie und all den Leuten die sie kannten und mit denen sie verkehrten so ähnlich ihre Rechte, wie sie es nannten, auf einen Mann geltend zu machen, ihn zu einem Entschluß zu zwingen; es sah ihnen so ähnlich ihre Geschäftsgrundsätze auf ihre Privatangelegenheiten zu übertragen!
Und wie die Phrase in dem Brief – »du darfst June natürlich in keiner Weise bloßstellen« – die ganze Sache preisgab.
Und doch war der Brief mit dem persönlichen Kummer, der Teilnahme für June, dem ›auf die Finger klopfen‹ so natürlich. Kein Wunder, daß sein Vater wissen wollte, was Bosinney beabsichtigte, kein Wunder daß er zornig war.
Es war schwer es abzuschlagen! Aber warum mußte die Sache gerade ihm übergeben werden? Sicherlich war das ganz unpassend; aber solange ein Forsyte erlangte, was er begehrte, war er nicht sonderlich