Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
Verfassung kann daher nichts Endgültiges sein, sondern muss dynamisch begriffen werden. Sie soll Raum geben für künftige Entwicklungen. Allzu häufige Verfassungsänderungen werden dadurch vermieden. So erweist sie sich als Konstante auf Zeit.
Zur Terminologie ist anzumerken: Die Verfassungsgesetze der evangelischen Landeskirchen tragen häufig anstelle der Bezeichnung „Verfassung“ oder „Kirchenverfassung“ die Bezeichnung „Kirchenordnung“ oder „Grundordnung“ (z. B. Baden, Berlin-Brandenburg-Oberlausitz, Kurhessen-Waldeck, Oldenburg, Pommern, Rheinland und Westfalen und die EKD). Der Begriff der Ordnung wurde, insbesondere seit der Zeit des Kirchenkampfes, deshalb gewählt, um zu unterstreichen, dass die Formen der äußeren Organisation der Kirche von denen des Staates verschieden sind. Bewusst wollte man von der im staatlichen Bereich üblichen Bezeichnung abrücken und griff auf die Terminologie der Reformationszeit zurück.3 Allerdings ging der Begriff der „Kirchenordnung“ jener Zeit über den der Gegenwart hinaus, da er neben Rechtsvorschriften im Sinne der heutigen Kirchenverfassungen auch Bestimmungen umfasste, die wir heute den Bereichen einer Lehrordnung oder kirchlichen Lebensordnung zuweisen würden. Tatsächlich entsprechen auch einige der geltenden Kirchenordnungen durchaus diesem Vorbild, so etwa die rheinische und die westfälische Kirchenordnung, die neben dem eigentlichen Verfassungsrecht auch den Gesamtbereich der kirchlichen Lebensordnung zum Inhalt haben. Wo dies aber nicht zutrifft und es allein um die Beschreibung der verfassungsrechtlichen Ordnung geht, vermag aber auch eine kirchliche Verfassung unter diesem Namen den Unterschied zur staatlichen Verfassung hinreichend deutlich zu machen, zumal dann, wenn sie ihre Bekenntnisverpflichtung klar zum Ausdruck bringt.
Die Architektur einer Kirchenverfassung ist in der Regel durch folgendes Schema bestimmt:
Zunächst werden in einer Präambel bzw. einem Grundartikel das Selbstverständnis der betreffenden Kirche und ihr Bekenntnisstand angegeben. Dem schließen sich in der Regel Bestimmungen an über
–das Gebiet und die Rechtsstellung der Kirche und das Verhältnis zu anderen christlichen Konfessionen, zu kirchlichen Zusammenschlüssen und zum Staat,
–die (Mit-)Gliedschaft in der Kirche,
–das Amt und die Dienste der Kirche,
–die Kirchengemeinde und den weiteren organisatorischen Aufbau (z. B. Dekanatsbezirke),
–die gesamtkirchlichen Leitungsorgane,
–die kirchliche Gesetzgebung,
–das kirchliche Finanzwesen und
–den kirchlichen Rechtsschutz.
Inhaltlich sind insbesondere folgende Determinanten maßgeblich:
2.Partizipation durch presbyterial-synodale Strukturen
Wenn an die Verfassung der Kirche die Erwartung herangetragen wird, dass diese demokratisch zu sein habe, so ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Kirche, rein rechtstheologisch betrachtet, weder demokratisch noch undemokratisch sein kann4: Demokratisch kann Kirche schon von Begriffs wegen nicht sein; in der Kirche herrscht nicht das Volk, sondern hoffentlich Christus. Undemokratisch ist Kirche aber wiederum auch nicht, weil Verfahrensweisen und Strukturen vielfach den im demokratischen System üblichen ähneln oder entsprechen. Diese strukturelle Parallelität ist jedoch vor allem der Lehre vom Priestertum aller Getauften geschuldet. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften begründet das Recht auf Teilhabe, auf Partizipation aller Gläubigen an dem der Kirche gegebenen Auftrag.
Sie ist insbesondere aus dem 1. Petrus-Brief (Kap. 2) abzuleiten und von Luther insbesondere in den Schriften „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520)5 und „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift“ (1523)6 entfaltet.
Der römisch-katholischen Scheidung zwischen Klerus und Laien wird dadurch eine klare Absage erteilt. Vielmehr stehen unterschiedslos alle Kirchenmitglieder „als Glieder der Gemeinde Jesu Christi in der Verantwortung vor Gott. Sie sollen dies im privaten und öffentlichen Leben bewähren“ und sind „im Rahmen der kirchlichen Ordnungen eingeladen, am Gottesdienst teilzunehmen, an der Gestaltung des kirchlichen Lebens mitzuwirken“, – sei es im Haupt-, Neben- oder Ehrenamt – „kirchliche Aufgaben zu übernehmen, am Verkündigungsdienst teilzuhaben und sich an Wahlen zu beteiligen“.7 Pflicht und Recht der Gemeinde zur Teilhabe konkretisieren sich in den geltenden evangelischen Kirchenverfassungen auf allen Ebenen des Verfassungsaufbaus.8
3.Grundrechte im kirchlichen Verfassungsrecht
Von profilierten Sozialethikern9, aber auch im kirchenrechtlichen Schrifttum10 ist die Erwartung formuliert worden, dass eine Kirchenverfassung den Status der Kirchenmitglieder in Entsprechung zu säkularen Verfassungen (z. B. Art. 1 bis 19 Grundgesetz) in einem Katalog kirchlicher Grundrechte festzuschreiben habe. So sehr dies angesichts der Affinität zwischen der christlichen Botschaft und dem Wesensgehalt der Grundrechte und zumal für eine Institution, die sich in ihrem Reden und Handeln nachdrücklich für die Achtung der Menschenrechte einsetzt, naheliegend zu sein scheint, stellen sich – zumindest dann, wenn kirchlichen Grundrechten das Verständnis des staatlichen Verfassungsrechts zugrunde gelegt wird – schwierige rechtsdogmatische Fragen.11 Diese Problematik kann im Rahmen dieses Grundrisses nur angedeutet werden:
Im staatlichen Verfassungsrecht versteht man unter Grundrechten mit Verfassungsrang ausgestattete vorrangige Rechtsnormen, die dem Bürger gegenüber dem Staat subjektive, auf dem Rechtswege einklagbare Rechte im Sinne von
–Gleichheitsrechten,
–Abwehrrechten (status negativus),
–Leistungsrechten (status positivus) und/oder
–Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten (status activus)
einräumen. Subjektive Rechte sind dabei Ausdruck des liberalen Rechtsstaats, der die autonome Freiheit des Individuums allen anderen Rechtszwecken voranstellt.12 Demgegenüber dient evangelisches Kirchenrecht gerade nicht vorrangig der Sicherung von Individualinteressen, sondern der Erfüllung des der Kirche gegebenen Auftrags. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist die Vergleichbarkeit kirchlicher Mitgliederrechte mit staatlichen Grundrechten zu bezweifeln.
Im Übrigen ist festzustellen:
Die Rechtsgleichheit in der Kirche ist durch das allgemeine Priestertum aller Getauften vorgegeben und wird in den evangelischen Kirchenverfassungen im Kontext des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts zum Ausdruck gebracht.13
Grundrechtstypische Gefährdungslagen, die abgewehrt werden müssen, sind in der Kirche in aller Regel nicht vorhanden, da die Kirche keine Staatsgewalt ausüben kann und nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit hat, in die Freiheit ihrer Mitglieder einzugreifen.14