Sie packen aus. Mathilde Schwabeneder
MATHILDESCHWABENEDER
SIE
PACKEN
AUS
Frauen im Kampf
gegen die Mafia
INHALT
Die Kronzeugin Piera Aiello
Die Mafia-Fotografin Letizia Battaglia
Die Camorra-Jägerin Nunzia Brancati
Die Senatorin Laura Garavini
Die Investigativ-Journalistin Alessia Candito
Die Bürgermeisterin Carolina Girasole
Die Staatsanwältin Claudia Moregola
Die Anwältin Enza Rando
Die Anonymen Rosalyn und Elsa
Die Autorin Mathilde Schwabeneder-Hain
VORWORT
Sie sind Juristinnen, Politikerinnen und Journalistinnen, manche arbeiten auch in ganz anderen Berufen.
Sie decken unermüdlich auf und packen schonungslos aus.
Ihr gemeinsames Ziel: der Kampf gegen Cosa Nostra, Camorra und ’Ndrangheta.
Lange Zeit waren die Mafien sowie die Anti-Mafia-Bewegung ausschließlich von Männern dominiert. In der realen Welt wie im Kino prägten Bilder von Superbossen die Vorstellung vom organisierten Verbrechen. Auch die Anti-Mafia-Helden waren männlich. Bis heute sind die 1992 ermordeten Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino alles überstrahlende Symbolfiguren. Sie stehen für den Kampf gegen die Mafia.
Anfangs fast unbemerkt, orientieren sich seither jedoch immer mehr Frauen an ihrem Beispiel. So wächst die Zahl der Aufdeckerinnen, die sich unter Lebensgefahr, mit Überzeugung und Engagement dafür einsetzen, dass die Verbrechen der Mafien aufgedeckt werden und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen. Heute ist die Anti-Mafia-Bewegung also durchwegs auch weiblich. Das gilt für den Kampf von außen wie von innen.
»Wir zählen beim Kampf gegen die Mafien auf die Frauen«, sagte mir bei einer meiner Recherchen auch der heutige Leiter der Staatsanwaltschaft von Rom, Michele Prestipino. »Je mehr Frauen ihnen den Rücken kehren, desto eher wird es möglich sein, die Mafien zu besiegen.«
Denn es sind nach wie vor die Frauen, die den archaischen Ehrenkodex der Mafien an ihre Kinder weitergeben. Sie erziehen die zukünftigen Bosse und nehmen gleichzeitig immer öfter eine zentrale Rolle im organisierten Verbrechen ein. Bricht eine Frau jedoch ihr Schweigen, reißt sie schonungslos Dämme ein und gibt sorgfältig gehütete Geheimnisse preis.
Sich gegen die Mafien aufzulehnen, verlangt großen Mut, Selbstverleugnung und manchmal die Bereitschaft, mit dem eigenen Umfeld komplett zu brechen, das konnte ich bei meiner Arbeit zu diesem Buch regelmäßig feststellen. Immer öfter geraten inzwischen auch die Anti-Mafia-Kämpferinnen ins Visier der Bosse. Sie werden eingeschüchtert, desavouiert und mit dem Tod bedroht. Doch trotz aller Gefahren steigt die Zahl der Aussteigerinnen, die die Fronten wechseln, konstant.
Die Frauen, die ich kennenlernen durfte, zeichnen sich durch große Stärke aus. Sie zu Interviews zu überreden, war hingegen nicht immer ganz einfach. Sie tun ihre Arbeit lieber ruhig im Hintergrund. Keine Einzige sieht sich selbst als Heldin oder als besonders couragiert.
Tatsächlich bekämpfen sie jedoch Organisationen, die wie die ’Ndrangheta zu den gefährlichsten der Welt gehören. Diese kriminellen Netzwerke ziehen sich inzwischen rund um den Globus und betreffen damit auch Österreich, Deutschland und die Schweiz. Dass die Mafien schon lange nicht mehr nur auf Italien beschränkt sind, zeigen auch Verbindungen der Clans zu ausländischen kriminellen Gruppierungen wie den nigerianischen Cults.
In allen Fällen gilt: Wenn Frauen auspacken, tragen sie mit Erfolg zur Bekämpfung der kriminellen Organisationen bei.
Die Kronzeugin
PIERA AIELLO
Bei den italienischen Parlamentswahlen am 4. März 2018 fuhr die Fünf-Sterne-Bewegung einen unerwarteten Triumph ein. Mit knapp 33 Prozent der Stimmen wurde die laut Eigendefinition postideologische Gruppierung Italiens mit Abstand stärkste Einzelpartei. Besonders fulminant war der Erfolg im Süden des Landes. 227 der insgesamt 630 Sitze im Abgeordnetenhaus gingen an die Fünf Sterne. Viele der neuen, sehr unterschiedlichen Parlamentarier zogen zum ersten Mal in den imposanten Palazzo Montecitorio ein. Für jeden und jede wurde eine Kurzbiografie samt Foto auf die Parlamentswebsite gestellt. Doch bei einem Namen fehlte das Bild. Piera Aiello aus dem sizilianischen Wahlkreis Trapani blieb auch auf dem Parlamentsausweis ohne Gesicht.
Als die Sizilianerin vor mehr als einem Vierteljahrhundert beschloss, gegen die Cosa Nostra auszusagen, bedeutete dies das Ende ihres bisherigen Lebens. Fortan sollte sie versteckt, ausgestattet mit einer neuen Identität und unter Polizeischutz leben.
Jetzt ist Piera Aiello die erste Kronzeugin in der Geschichte Italiens, die ins Parlament gewählt worden ist. 51 Prozent der Stimmen konnte sie auf ihr Konto verbuchen. Und das, obwohl sie sich im Wahlkampf aus Sicherheitsgründen vor TV-Kameras und Fotografen nicht zeigen konnte. Doch die »unsichtbare Kandidatin«, das »Gespenst«, wie sie auch genannt wurde, ließ alle anderen Mitstreiter verblassen. Die Frau, die sich zu Beginn sogar im Parlament nur mit einem Schleier vor dem Gesicht zeigen konnte, erfährt in ihrer Heimat eine späte Anerkennung, die sie »tief berührt«.
»Das Leben mit einer falschen Identität war hart«, sagt Piera Aiello ohne Umschweife, da gebe es nichts zu beschönigen. Sie lächelt, während sie lebhaft erzählt, doch ihre Augen bleiben ernst.
Die Aufmerksamkeit, die ihr die Wahl ins Parlament eingebracht hat, war ihr anfangs sehr unangenehm. Es dauerte Wochen, bis sie lernte, mit ihrer neuen Rolle als gewählte Volksvertreterin umzugehen. Die 51-Jährige überlegte zu Beginn sogar, jemanden zu beauftragen, der ihre Reden im Abgeordnetenhaus vorlesen sollte. Doch dann verwarf sie diese Idee als Verrat an ihrer Wählerschaft.
»Ich war 27 Jahre lang verschwunden. Mir war klar, früher oder später muss ich aus dieser Geschichte herauskommen. Und ich wusste auch, dass ich meine Ängste überwinden muss. So habe ich dann bei einer Gedenkfeier für Mafiaopfer im Mai 2018 im sizilianischen Ort Valderice mein Kopftuch abgenommen und mich erstmals der Öffentlichkeit gezeigt.« Völlig nackt und ohne jeglichen Schutz habe sie sich vor all den Menschen gefühlt. Es sei ein Kraftakt gewesen,