Sie packen aus. Mathilde Schwabeneder

Sie packen aus - Mathilde Schwabeneder


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unter der harten Hand von Salvatore Riina einen regelrechten Feldzug gegen den Staat. Ihren mörderischen Aktivitäten fielen daher nicht nur Mitglieder verfeindeter Familien zum Opfer, sondern auch zahllose Vertreter der Zivilgesellschaft. Viele berühmte Todesopfer gehen auf ihr Konto: Politiker, Richter, Journalisten und Militärangehörige, wie General Carlo Alberto Dalla Chiesa, der als Polizeichef nach Sizilien geschickt worden war, um den Ausnahmezustand zu beenden. 1982 starb er mit seiner jungen Frau unter dem Kugelhagel eines Todeskommandos auf offener Straße. »Was wir erlebt haben«, sagt Letizia Battaglia, »ist eine kollektive Tragödie.«

       Der Hunger nach Freiheit

      Das Licht der Welt erblickte Letizia Battaglia am 5. März 1935. Palermos blühende Jahre mit ihren auch außerhalb Siziliens bekannten Jugendstilbauten waren da bereits Vergangenheit. Nun prägte das faschistische Regime nicht nur die Architektur der Stadt, sondern auch den gesamten Alltag der Bevölkerung. Im Zweiten Weltkrieg kam Sizilien, und damit auch seiner Hauptstadt, eine besondere Rolle zu. Hier landeten die alliierten Kräfte im Sommer 1943, um den Nazifaschismus, vom Mittelmeer kommend, zu bekämpfen. Palermo wurde vom US-amerikanischen General George Smith Patton und seinen Truppen besetzt. Dieser Operation Husky genannten, größten amphibischen Offensive des Zweiten Weltkrieges waren monatelange schwere Bombardements vorausgegangen. Palermo sollte sich von diesen Schäden jahrzehntelang nicht erholen.

      Das Mädchen Letizia erlebte seine Kindheit aber weiter nördlich. Der Vater war aus beruflichen Gründen mit der Familie nach Triest gezogen. Dort war sie glücklich, sagt sie heute. Und glücklich bedeutet für sie, frei zu sein. In Triest habe sie gelernt, was Freiheit bedeute. Sie hatte Freundinnen und Freunde, spielte im Freien, fuhr mit dem Fahrrad durch die Parks und studierte die Natur. All das sollte sich radikal ändern, als die Familie wieder nach Palermo zurückging. Die Gepflogenheiten in Sizilien seien anders, erklärten die Eltern. Mädchen dürften nicht im Freien spielen.

      Letizia versuchte sich anzupassen, doch dann veränderte ein Vorfall ihr unbeschwertes Leben für immer. Zehn Jahre war sie damals alt und auch heute erinnert sie sich noch genau an jenen fernen Tag. Ein unbekannter Mann hatte sie belästigt. »Er hatte sich vor mir entblößt. Danach hat mich mein Vater zu Hause eingeschlossen.«

      Diese Erfahrung wird für sie ein Wendepunkt in ihrem Leben. Ein Schlüsselerlebnis, das die Entwicklung des aufgeweckten und sensiblen Mädchens nachhaltig prägt. »Ich war ein unschuldiges Kind und habe gar nicht verstanden, was da vorgefallen war. Ich hatte mich aber sehr erschrocken und alles meinen Eltern erzählt. In der Folge haben sie jedoch mehr Schaden angerichtet als dieser Mann. Denn sie haben mich meiner Freiheit beraubt. Und das hat mein ganzes Leben bestimmt.«

      Letizia Battaglia rebelliert wie viele andere ihres Alters und ihrer Herkunft: Sie tritt noch ganz jung die Flucht nach vorne an und vertauscht den Käfig des Elternhauses mit dem einer Ehe. »Schuld daran war mein großer Hunger nach Freiheit. Ich habe geheiratet, um mich von meinem Vater zu befreien. Das war natürlich eine Dummheit.«

      16 Jahre ist Letizia erst alt, als sie vor den Traualtar tritt. Ihr um einiges älterer Mann wird ihr nicht den Freiraum gewähren, den sie sich erhofft hat. Der reiche Erbe einer Unternehmerfamilie erweist sich als nicht weniger autoritär und besitzergreifend als ihr Vater. Er erstickt ihre Wünsche nach einer möglichen Weiterbildung im Keim. Letizia darf weder studieren noch arbeiten. Die Vorstellungen der Eheleute von der Rolle einer Ehefrau liegen weit auseinander und erweisen sich auch nach 20 Jahren des Zusammenlebens noch als unvereinbar. Während ihrem Mann eine traditionelle Hausfrau und Mutter vorschwebt, droht sie selbst an diesem Modell zu ersticken.

      Aus der Ehe gehen drei Töchter hervor, auf die sie sehr stolz ist. Die ihr aufgezwungene Rolle einer sizilianischen Gattin macht Letizia jedoch krank. Psychisch und physisch. Nach einem Nervenzusammenbruch und einer längeren Psychoanalyse nimmt Letizia Battaglia ihr Leben selbst in die Hand. Sie trennt sich von ihrem Mann. Die drei Kinder nimmt sie mit.

      1971, kurz nachdem in Italien die Scheidung möglich geworden ist, wird die Ehe geschieden. Die 36-jährige Letizia Battaglia verlässt zum zweiten Mal ihre Insel und geht nach Mailand.

      In der pulsierenden lombardischen Hauptstadt beginnt sie ganz von vorne. Sie schreibt Artikel, die sie verschiedenen Zeitungen anbietet. Von Mailand aus sucht sie auch die Zusammenarbeit mit der sizilianischen Tageszeitung L’Ora. Das im Jahr 1900 von der Industriellenfamilie Florio gegründete Blatt zählte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den linken Medien des Landes und widmete sich verstärkt dem investigativen Journalismus. L’Ora war auch die einzige Zeitung, die es wagte, detaillierte Berichte über die Mafia zu veröffentlichen. Doch in Mailand geht es Letizia Battaglia um andere Themen. Hier in der Wirtschafts- und Designmetropole des Landes kommt sie mit einer für sie neuen Welt in Berührung: Sie lernt Künstler und Intellektuelle kennen und arbeitet nun als freischaffende Kulturkorrespondentin. In dieser Zeit begegnet sie auch einem 18 Jahre jüngeren Mann. Sie verlieben sich und er wird viele Jahre ihr Arbeits- und Lebenspartner sein.

      Franco Zecchin, der sich mit Kernphysik beschäftigt, geht bald darauf mit ihr nach Sizilien. In Palermo schlägt nun für beide die Stunde der professionellen Fotografie. »Ich habe 1974 nach meiner Rückkehr aus Mailand bei der Zeitung L’Ora begonnen. Da war gerade wieder der Mafiakrieg zwischen Corleone und Palermo ausgebrochen.«

      Immer öfter wird Letizia Battaglia nach Bildern zu ihren Geschichten gefragt. Bilder, die sie zu diesem Zeitpunkt nicht liefern kann. So nähert sie sich mit fast 40 Jahren der Fotografie an und entdeckt das Foto als ideale Ausdrucksform, um all das Grauen und Leid, das sie miterlebt, auch abseits von Worten vermitteln zu können.

      Letizia Battaglia wird so die erste Fotoreporterin einer Tageszeitung in Sizilien. »Die Arbeit für ein täglich erscheinendes Blatt ist ganz anders als die für eine Monatszeitschrift«, sagt die Autodidaktin, als sie an ihre Anfangsschwierigkeiten zurückdenkt. »Für das Tagesgeschäft arbeiten heißt, im Moment agieren, denn sonst ist die Gelegenheit vorbei.«

       Am Tatort

      Eines ihrer wohl bekanntesten Fotos ist genau so entstanden: aus der Intuition heraus und spontan. Wenn Letizia Battaglia davon erzählt, spürt man, wie sie selbst tief in die Geschichte eintaucht. »Es geschah am 6. Januar 1980«, beginnt sie. »Es war ein wunderschöner Sonntag und noch dazu der Dreikönigstag, der in Italien ja sehr gefeiert wird. Franco und ich waren mit meiner Tochter Patrizia in einen Park gegangen. Dort haben wir, wie so oft, in der Bar geplaudert und uns über unsere Projekte ausgetauscht. Wir waren alle sehr entspannt und sind einige Zeit später zu unserem Auto zurückgegangen.« Die drei steigen in fröhlicher Stimmung in ihren Fiat 600, um zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Kurz darauf nehmen sie in der eleganten Via della Libertà am Straßenrand ein Auto wahr, um das sich einige Menschen drängen. »Es waren ungefähr sechs, sieben Personen. Im ersten Augenblick dachten wir, da hat jemand einen Autounfall gehabt, und wollten einfach weiterfahren.« Doch irgendetwas kommt ihnen sonderbar vor. Sie halten an und greifen zu ihren Fotoapparaten. »Vor unseren Augen hat sich eine dramatische Szene abgespielt. Eine Frau weinte, eine andere schrie und im Auto selbst lag ein lebloser Mann. Ein zweiter Mann versuchte ihn aus dem Inneren des Wagens zu ziehen.« Wie automatisch schießt Letizia Battaglia »einige verwackelte Fotos« und friert damit diese aufwühlenden Momente für immer ein.

      »Wir haben die Aufgabe, bis zum Schluss zu kämpfen, um so das Beste für die Gesellschaft zu erreichen.«

       LETIZIA BATTAGLIA

      »Ich wusste nicht, wer die Menschen waren. Aber schon kurz darauf erfuhr ich, auf wen hier geschossen worden war: Es war der Präsident der Region Sizilien. Das war ein Riesenschock für uns alle.«

      Der 44-jährige Piersanti Mattarella, bekannt für seinen klaren Anti-Mafia-Kurs, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Mörder hatte den Zeitpunkt genau kalkuliert. Der christdemokratische Regionalpräsident war im Begriff, mit seiner Familie zur Messe zu fahren. Dabei wollte er möglichst unauffällig sein und hatte seinen Leibwächtern daher freigegeben. Piersanti Mattarella war gerade in sein Fahrzeug eingestiegen, als


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