Sie packen aus. Mathilde Schwabeneder

Sie packen aus - Mathilde Schwabeneder


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keine Chance, dieses Attentat zu überleben. Die Cosa Nostra tötete damit einen ihr unbequemen, weil reformfreudigen und kritischen Juristen und Zentrumspolitiker, einen Schüler des ebenfalls ermordeten Ministerpräsidenten Aldo Moro, und traf gleichsam ein Symbol staatlicher Autorität.

      Die erste »fremde Person am Tatort« ist Letizia Battaglia. »Wir hatten unfreiwillig eine Sensationsnachricht geliefert. Denn zu diesem Zeitpunkt war außer uns niemand von der Presse vor Ort.« Das bedrückende Foto macht in Windeseile in ganz Italien die Runde.

      Dreieinhalb Jahrzehnte später taucht dieser Schnappschuss wieder auf und eine zweite Betrachtungsebene wird deutlich. »Denn der Mann, der den leblosen Piersanti Mattarella aus dem Auto zieht und ihm Erste Hilfe leistet, ist heute der Präsident der Republik Italien.« Piersantis um sechs Jahre jüngerer Bruder Sergio Mattarella wird 2015 vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt.

      Über das Attentat, bei dem auch seine Schwägerin verletzt worden ist, spricht der zurückhaltende frühere Universitätsprofessor so gut wie nie. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sein Eintritt in die Politik mit jenem tragischen Dreikönigstag zu tun hat. Denn bald darauf schließt sich Sergio Mattarella ebenfalls der Democrazia Cristiana an. 1983 wird er erstmals in das Abgeordnetenhaus gewählt. Wie sein Bruder zählt auch er zum linksorientierten Flügel der DC.

      »Dieses Foto«, sagt Letizia Battaglia heute, »hat also eine doppelte Bedeutung. Das zeigt mir, dass die Fotografie nicht nur für mich persönlich wichtig ist, sondern für die Gesellschaft an sich. Sie kann zu ihrem Gedächtnis werden. Wenn ich heute Jugendliche treffe, die von all dem, was damals geschehen ist, keine Ahnung haben, lernen sie Geschichte auch dank meiner Fotografien.«

      Letizia Battaglias Weg als Pressefotografin war jedoch mit vielen Steinen und Vorurteilen behaftet. »Die Arbeit in jenen Jahren war ohnehin hart und auch persönlich sehr belastend«, betont sie, wenn ich sie auf ihre internationale Bekanntheit als Starfotografin anspreche, aber für eine Frau, fügt sie dann hinzu, sei das damals noch schwieriger gewesen als für einen Mann. »Anfangs hat mich die Polizei oft vom Tatort verwiesen. Sie ließen mich einfach nicht durch. Aber auch Kollegen oder andere Leute sahen mich mit Unverständnis an. Ich wurde wie ein kleines Dummchen behandelt, das mit einem Fotoapparat herumläuft, um sich damit wichtigzumachen.«

      Es habe Jahre gedauert, doch dann hatte sie sich den nötigen Respekt gesichert. »Heute anerkennen die Leute in Palermo die Arbeit, die ich gemacht habe, und ich kann sagen, sie lieben mich sogar«, lacht sie und fügt, noch immer kämpferisch, hinzu: »Ich habe mir einfach nichts mehr gefallen lassen.«

      Letizia Battaglias Arbeit war kräfteraubend. Die »schnell geschossenen Pressefotos« waren die Frucht großer Anstrengung, zieht die frühere Fotojournalistin heute Bilanz. 19 Jahre – so lange arbeitete sie als Pressefotografin – musste sie ununterbrochen präsent sein. »Tag und Nacht, Sonn- und Feiertage, Karneval inklusive: Es gab keine Verschnaufpausen.«

      Letizia Battaglia hörte den Polizeifunk ab, war oft die Erste am Tatort und fotografierte die Opfer der Cosa Nostra und deren Angehörige. Dann ging es in die eigene Dunkelkammer, die Fotos wurden entwickelt und veröffentlicht.

      Schon bald war ihr klar: Sie hatte sich, ohne es zu wollen, definitiv dem Kampf gegen die Mafia verschrieben, und als Fotografin tat sie das mit einer unverwechselbaren Handschrift: Sie fotografierte ausschließlich in Schwarz-Weiß. So konnte sie mehr Tiefe und Ausdruck erreichen, ist sie überzeugt, und gleichzeitig jenen respektvollen Abstand wahren sowie die menschliche Anteilnahme garantieren, die ihr bei ihrer Arbeit immer so wichtig gewesen sind. »Technisch war ich nie sehr begabt«, sagt sie auch heute noch, »der Ausschnitt, die Schärfe, das Licht, all das hat mich sehr gefordert. Wenn man dann noch die Emotionen hinzudenkt, die man empfindet, die zitternde Hand angesichts von Tod und Verzweiflung …«

       Fotos: eine Waffe gegen die Mafia

      Viele ihrer Bilder zeigen Gewalt und Verbrechen, doch Letizia Battaglia hat auch andere Aspekte ihrer Heimatstadt eingefangen: die oft bittere Armut, die Aussichtslosigkeit vieler Menschen, aber auch archaische Traditionen, die hier länger überlebten als anderswo.

      Besonders gerne lichtete sie kleine, zornige Mädchen kurz vor der Pubertät ab. Das sei ein autobiografisches Element, gibt sie unumwunden zu. »Diese Bilder haben etwas mit meiner Kindheit zu tun. Sie spiegeln jene Zeit wider, als ich zehn Jahre alt war und von Unabhängigkeit, Liebe und Schönheit träumte.«

      Generell konzentrierte sich Letizia Battaglia bei ihrer Arbeit mehr auf Frauen als auf Männer. Frauen habe sie interessanter gefunden, egal welcher Altersgruppe sie angehören, das hat sie auch in den Vorträgen, die sie in vielen Ländern hält, immer wieder betont.

      Eines dieser Frauenporträts zeigt die 22-jährige Witwe Rosaria Costa Schifani. Ihr Mann Vito, nur fünf Jahre älter als sie, gehörte zu den Leibwächtern von Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und war mit ihm und weiteren drei Menschen 1992 durch ein Sprengstoffattentat zerfetzt worden. Die schüchterne und verzweifelte Rosaria rührte später ganz Italien, als sie während der im Fernsehen übertragenen Trauerfeierlichkeiten totenblass ihre vorbereitete Rede zur Seite legte und einen Appell an die Mafia richtete: »Ich wende mich an euch, Männer der Mafia, die ihr auch hier unter uns seid: Ich vergebe euch. Aber ihr müsst eure Knie beugen, wenn ihr den Mut zu Veränderung habt …« Dann fügte sie weinend hinzu: »Aber ich weiß schon, dass sie das nicht tun werden. Denn sie wollen sich nicht ändern.«

      Einige Wochen später wandte sich ein Journalist an Letizia Battaglia und fragte, ob sie für ein Interview, das er schreibe, ein Foto von Rosaria Schifani machen könne. Die ersten Aufnahmen gefielen ihr nicht. »Sie war eine hübsche Frau, aber das, was ich zeigen wollte, war nicht an die Oberfläche gekommen: ihr großes, stilles, inneres Drama.« So bat sie Rosaria, sich ans Fenster zu stellen, »um das natürliche Licht zu nutzen«, und ersuchte sie dann, »die großen, schönen Augen zu schließen«. Das Ergebnis war ein minimalistisches und extrem ausdrucksstarkes Porträt, das heute zu ihren besten gezählt wird. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die die persönliche Tragödie der jungen Frau, die mit ihrem Säugling allein zurückblieb, offenbart.

      Für das Interview wurde allerdings ein anderes, »banales Foto«, ausgewählt, wundert Letizia Battaglia sich auch jetzt noch. Nach einigem Überlegen hat sie das Porträt daher selbst veröffentlicht.

      Anfang des Jahres 2020 kommt Rosaria Costa Schifani erneut unfreiwillig in die Schlagzeilen. Ihr Bruder wird verhaftet. Er soll für die Mafia Schutzgelder eingetrieben haben. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera sagt die in Norditalien lebende Rosaria, sie sei völlig zerstört. Die Frau, die die Mafia herausgefordert hat, ist vom eigenen Bruder »verraten« worden. Eine weitere Tragödie, meint Letizia Battaglia, eine Tragödie, die zeigt, wie tief die Gräben innerhalb der Familien nach wie vor sind. »Man kann auch heute noch in ein und derselben Familie völlig integre Personen finden, die alles richtig machen, und gleichzeitig andere, die sich dem Bösen verpflichtet haben.«

      Sie selbst hatte sich dem Engagement für ihre Stadt verpflichtet, doch 1983 kommt sie an einen toten Punkt. Die Ermordung des Richters Rocco Chinnici löst in ihr eine tiefe Krise aus. Zu viele Leichen haben sich in ihren Kopf eingebrannt und liegen gleichzeitig als Negative in ihrem Archiv. Letizia Battaglia nimmt Abstand von ihrem Fotoapparat und versucht sich anderwärtig für Gerechtigkeit zu engagieren. Sie geht in die Politik. 1985 zieht sie für die Grünen ins Stadtparlament von Palermo ein. Bürgermeister Leoluca Orlando führt in den kommenden Jahren eine Fünf-Parteien-Koalition an. Die Jahre seiner Regierung gelten als »Palermitanischer Frühling«. An den vielen Kampagnen zur Verbesserung der Lebensqualität der Stadt nimmt auch Letizia Battaglia teil.

      Sie lässt Bäume pflanzen, öffentliche Räume gestalten, kämpft verbissen gegen den Drogenhandel und ermöglicht erstmals eine erwähnenswerte Kulturförderung. Auch als Politikerin dokumentiert sie Missstände und versucht nah an den Menschen zu sein. Diese Zeit bezeichnet sie später oft als die glücklichste in ihrem Leben. »Es war eine Art Privileg, in den Strukturen der Macht tätig zu sein. Es war eine Art Luxus, sich für sein Land einsetzen zu können und die Mittel dazu zu haben.


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