Trost. Michael Lehofer

Trost - Michael Lehofer


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Babylon deportiert. Die Menschen fühlten sich verlassen, beschämt und schuldig. Nach einer langen Zeit im Exil, in der die Sehnsucht nach einer befreienden Botschaft gewachsen war, hörte das Volk die Worte des Propheten. Sie wirken bis heute.

      Aufklärung und Wissenschaften haben, so der Philosoph Jürgen Habermas, „eines nicht vermocht: das Bedürfnis nach Trost [sei es] zu stillen oder zum Vergessen zu bringen“. Es gehört zu uns Menschen, tröstungsbedürftig zu sein. Die Antwort darauf, der Trost, wird von uns als Geschenk begriffen. Wirklicher Trost lässt sich nämlich nicht „machen“. Trost ereignet sich, stellt sich meist ganz leise ein.

      Warum sind wir alle bedürftig nach Trost? Sind wir nicht in vielen wesentlichen Belangen des Lebens mehr als beschenkt? Auch wenn es viele nicht wahrnehmen können – wir leben in und aus einer Fülle, die wir oft als selbstverständlich erachten. Fast alles, was wir sind, steht uns ohne großes eigenes Zutun zur Verfügung: ein Leben in Freiheit, unterschiedliche Begabungen, Stärken und Bildungsmöglichkeiten, materielle Güter und Nahrungsmittel, freundschaftliche und gesellschaftliche Netzwerke. Und die vielen scheinbaren Zufälle, die uns im Leben zu Hilfe kommen. Auch wenn unser Leben ein Geschenk ist, betrachten wir es oft unbedacht als unseren Besitz. Doch wenn uns etwas vom bislang Selbstverständlichen abhandenkommt, beispielsweise die Gesundheit, eine kostbare Beziehung oder die jugendliche Kraft und Attraktivität, verfallen wir in Traurigkeit. Das Bedürfnis nach Trost stellt sich ein. Wird es nicht beantwortet, kann sich ein Schatten unbewältigter Trauer über die Seele legen. Sie zeigt sich möglicherweise verfremdet in einer Verhärtung des Denkens, unter der Maske der Verbitterung oder in einer zunehmenden Herzenskälte. Trösten ist die Kunst, Menschen aus dem scheinbar unwiederbringlichen Verlust in eine neue Fülle zu führen. Eine Ermutigung, den Blick zu heben, den Blick zu weiten, den Blick zu wenden. Trösten ist die Anleitung zu einem kreativen, heilsamen Perspektivenwechsel. Trösten ist ein Plädoyer für die Wirklichkeit, wie sie uns das Leben zumutet – ein Plädoyer gegen die Illusion.

      Mit unseren Überlegungen versuchen wir, die oftmals herrschende Dynamik der Trostlosigkeit zu hinterfragen, ihre Gründe zu benennen und ihr lähmendes Potenzial zu relativieren. Sie manifestiert sich oft pseudorational in einer pessimistischen Lebenseinstellung, einem fundamentalen Vorwurf gegen Gott und die Welt, in Verschwörungstheorien oder in ähnlichen Verkleidungen. Wie sich jeder Trost erst im praktischen Leben bewähren muss, so muss sich auch die weit verbreitete Trostlosigkeit einer kritischen Prüfung unterziehen. Letztlich möchten wir mit unseren niedergeschriebenen Gesprächen dem Trost einen größeren Raum geben. Das vorliegende Buch ist kein Ratgeber und kein Nachschlagewerk, um das Handwerk des Tröstens zu lernen. Dazu ist es zu wenig systematisch und zu essayistisch. Außerdem gibt es zu jedem Stichwort eine unüberschaubare Menge an Fachliteratur, sodass wir diesem Anspruch nicht genügen würden. Unsere Gedanken bieten vielmehr eine Zusammenschau unterschiedlichster Aspekte, die sich heilsam, stärkend, sinnstiftend auf den Menschen auswirken können und den Zustand des Getröstet-Seins ermöglichen sollen. Dazu betrachten wir in einem eigenen Kapitel die mühsamen und vielfach vergeblichen Versuche des Menschen, sich zu trösten. Nicht selten führen sie dazu, dass die Trostlosigkeit eher noch zunimmt.

      Wir sprechen von der individuellen Verlorenheit des Menschen, also vom Einzelnen, der sich verloren vorkommt – übersehen, wirkungslos und unbedeutend in einem unüberschaubar großen System. Und wir thematisieren auch eine kollektive Verlorenheit. Es ist unbestritten, dass es neue Überlegungen und Strategien braucht, um für die großen Wunden unserer Zeit etwas Heilendes anzubieten. Wir wollen zumindest versuchen, den gefährlichen Gräben zwischen den Erfolgreichen und den (Krisen-)Verlierern etwas Trostreiches entgegenzuhalten. Die immer wiederkehrenden Wellen psychosozialer Belastungen etwa aufgrund von Arbeitslosigkeit und einer weitverbreiteten Zukunftsangst machen einen kollektiven Tröstungsbedarf deutlich. Globale Krisen wie Klimawandel, soziale Ungleichheiten, Überalterung, Fluchtdramen und politische Destabilisierungen können in einem Trostbuch ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.

      Der entscheidende Weg aus der Verlorenheit wird immer „der andere Weg“ sein, von dem Paulus so überzeugend im „Hohelied der Liebe“ des Korintherbriefes spricht. Keine noch so weitreichende Kompetenz und Wissenschaft, keine tiefgründige Selbsterkenntnis allein und keine noch so umfassende Selbstdisziplinierung können aus der Verlorenheit führen – wenn sie nicht getragen und inspiriert wären von der Liebe. Trösten – auf den Punkt gebracht – ist die empathische Anleitung, den Weg der Liebe neu zu entdecken. Letztlich geht es nicht nur darum, selbst getröstet zu werden, sondern um die Fähigkeit und Bereitschaft zu trösten. Auf ganz geheimnisvolle Weise findet sich gerade darin Trost – für uns alle.

      Hermann Glettler und Michael Lehofer

I DIE KUNST DES TRÖSTENS

       Wir werden eingetaucht

       und mit den Wassern der Sintflut gewaschen

       Wir werden durchnässt

       bis auf die Herzhaut

       Der Wunsch nach der Landschaft

       diesseits der Tränengrenze

       taugt nicht

       der Wunsch den Blütenfrühling zu halten

       der Wunsch verschont zu bleiben

       taugt nicht

       Es taugt die Bitte

       dass bei Sonnenaufgang die Taube

       den Zweig vom Ölbaum bringe

       dass die Frucht so bunt wie die Blume sei

       dass noch die Blätter der Rose am Boden

       eine leuchtende Krone bilden

       und dass wir aus der Flut

       dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen

       immer versehrter und heiler

       stets von neuem

       zu uns selbst

       entlassen werden.

       Hilde Domin, Bitte

       Trösten oder Vertrösten?

      HG: Ungebrochen ist der Tröstungsbedarf in unserer trostlosen Welt. Von einer Krebsdiagnose oder einer anderen Krankheit überrascht, die Arbeit verloren oder mit dem eigenen Betrieb im Überlebenskampf, aus der Heimat vertrieben oder vor Krieg und Terror geflüchtet. Unzählige Menschen suchen Trost: Mutlose, Verzweifelte, Kranke, Verfolgte, Gedemütigte, Gefangene, Schwache, Überlastete, Gescheiterte, Sterbende und um sie Trauernde. Sehnsucht nach Trost haben der Teenager mit Liebeskummer und ebenso das Ehepaar, das sich nach vielen Jahren auseinandergelebt hat. Auch die vielen, die unter Erschöpfung, Vereinsamung und dem Gefühl leiden, nichts bewirken und verändern zu können, sind trostbedürftig. Viele leben und sterben trostlos. Gleichzeitig tut sich ein riesiger Markt von Vertröstungsangeboten auf. Die Produktpalette von Gütern und Luxusartikeln, die Trost verheißen, wird immer größer. Ratgeberliteratur und Esoterikangebote boomen, und auch die Film- und Unterhaltungsindustrie profitiert vom unruhigen, nach Tröstung hungernden Menschen. Aber was unterscheidet den „echten“ Trost von seinem Gegenteil, nämlich der Vertröstung? Trost ist meist fragwürdig und in der Folge auch wirkungslos, wenn er als Trost etikettiert daherkommt. Er ist dann willkommen und ersehnt, wenn er sich wie menschliche Nähe anfühlt, wie ein wohltuender Raum, der sich nach erlittener Enge und Bedrängnis plötzlich auftut.

      ML: Wenn man an ein Baby denkt, das mit hochrotem Kopf schreit und sich durch nichts beruhigen lässt, dann kann man sich vorstellen, was es bedeutet, untröstlich zu sein. Greifbar wird das intensive Bemühen der


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