Viel zu langsam viel erreicht. Barbara Sichtermann
worden sind – und vieles spricht dafür –, dann haben wir als Frauen im Prozess der Emanzipation viel mehr zu tun, als nur gleiche Rechte zu fordern. Denn dann steckt die Herrschaft in ihren beiden Ausprägungen, der Dominanz und der Unterwerfung, der Prärogative und dem Gehorsam, dem Machtbewusstsein und der Bereitschaft zum Klein-Beigeben, in den winzigsten Verästelungen des menschlichen Zusammenlebens, des öffentlichen ebenso wie des privaten. Das hieße, dass wir einen Mann nicht nur deshalb an seinen Bewegungen erkennen, weil diese Bewegungen naturgemäß eckiger sind als die einer Frau, sondern auch, weil sie, soziokulturell begründet, stärker darauf aus sind, Folgsamkeit zu erwirken. Es hieße, dass wir eine weibliche Stimme auch deshalb von einer männlichen unterscheiden, weil sie im Unterton eine Tendenz zu dieser verlangten Folgsamkeit spüren lässt.
Das aber bedeutet, dass Herrschaft als Anordnung und Unterordnung – oder auch Auflehnung gegen die Erwartung, Unterordnung zu verlangen oder zu leisten – überall ist, dass wir gar nicht darum herumkommen, ihr alltäglich und an jedem Ort zu begegnen. Und wenn sie überall ist, ist sie auch schwer wahrnehmbar. Wird sie doch wahrgenommen, zeigt sie zugleich, wie verbreitet, wie fein verteilt in allen Aktionen und Reaktionen sie ist, wie ubiquitär, wie unweigerlich. Da kann schon das Gefühl einer Sisyphusarbeit aufkommen. Und zwar bei allen, die am Prozess der Emanzipation teilhaben, sei es als Vorantreibende oder Aufhaltende, als Subjekte oder Objekte, als Beobachtende oder Involvierte. Das verbreitete Gefühl von Überforderung einerseits: Es ist alles zu viel, und Unterforderung andererseits: Es ist doch längst alles gesagt, hat hier seine Ursache. Die Soziologieprofessorin Ute Gerhard hat die schwierige Situation folgendermaßen kurz in Worte gefasst: »Der Widerspruch zwischen Befreiung und Beschränkung, zwischen der Rede von der Emanzipation und tatsächlicher Unterordnung der Frau unter männliche Dominanz begleitet die Frauen- und Geschlechtergeschichte der Neuzeit seit der Französischen Revolution.«
Die Geschlechtscharaktere in den Jahrhunderten zuvor wiesen allerdings mannigfache Unterschiede auf, sie waren quasi gewichtet und ausgestaltet durch alle anderen Herrschaftsformen, die es in der jeweiligen Epoche gab. Die Dame am Hofe eines italienischen Renaissancefürsten lebte anders und gab sich anders als eine Bürgerin kurz vor der Revolution in Paris, und eine Kaufmannsfrau im mittelalterlichen Augsburg arrangierte sich auf andere Art mit ihrem Gatten als dreihundert Jahre später eine Aristokratin am Zarenhof in Russland. Zu schweigen von den Unterschieden zwischen der Ehefrau eines arabischen Scheichs und einer amerikanischen Universitätsdozentin heute. Was sie aber fast alle eint, ist ihr Unterworfensein unter die Herrschaft von Männern, ist der Mangel an Freiheit, was das Fällen lebenswichtiger Entscheidungen betrifft. Die einzige Ausnahme bildet die Universitätsdozentin, sie kann ihr Leben bereits selbst gestalten. Und sie weiß, dass sie, ihren Fall hochgerechnet auf die weibliche Weltbevölkerung, eine Ausnahme ist.
Die historische Herrschaft der Männer über die Frauen war und ist je nach Zeit und Ort unterschiedlich ausgeprägt, aber sie ist als Herrschaft mit den typischen Einschränkungen, denen die Beherrschten ausgesetzt waren und sind, auch überall ähnlich. Das wurde von den Frauen selbst jedoch früher nur selten so gesehen. Die gefühlte Selbstverständlichkeit der männlichen Vorherrschaft verhinderte einen kraftvollen und einstimmigen Widerstand seitens der Frauen, und wo er aufkam, wurde er niedergemacht; das letzte Wort in all diesen Auseinandersetzungen sprach stets die Gewalt. Aber wie wurde sie legitimiert, wie kam es dazu, dass die Männer ihre Herrschaft so lange und so weitgehend unangefochten aufrechterhalten konnten? Man sprach ja nicht einmal von Herrschaft. Es galt stattdessen der verbreitete Glaube an eine Bestimmung, die mit dem jeweiligen Geschlecht verbunden sei. Nachdem dieser Glaube durch die Aufklärung erschüttert worden war, hat man ihn vor allem im 19. Jahrhundert besonders inbrünstig beschworen.
Die Männer seien dazu bestimmt, ihre Familie zu beherrschen, die Frauen dazu bestimmt, sich zu fügen. Auch wenn das nicht überall friktionslos gelang, war doch das Bewusstsein: Ich, der Mann, muss meine Frau führen, und: Ich, die Frau, muss mich dem Mann unterordnen, allgemein. Das Medium, in dem diese Überzeugungen reiften und sich verfestigten, war die Religion. Es war (und ist) in allen geoffenbarten Bekenntnissen das Gleiche: Gott wolle es so, dass die Frau dem Manne untertan sei, und nun müsse man das Leben nach diesem Gebot führen. Es ist eigentlich einer Erklärung bedürftig, dass diese spirituell vermittelte Herrschaftsform der Männer über die Frauen so lange hingenommen worden ist. Was man weiß, ist dies: Die großen monotheistischen Religionen mit ihren Vatergottheiten über den Wolken haben ein Menschenbild kreiert, verbreitet und am Leben erhalten, in dem Herrschaft als Spezialfall von Zuneigung und Fürsorge, Auflehnung dagegen als Sünde und Ketzerei galt. Gehorsam war die wichtigste und angesehenste Verhaltensbereitschaft – die Männer schuldeten ihren Gehorsam Gott und seinen Gesetzen, die Frauen desgleichen, mit dem Unterschied, dass ihr Gottesgehorsam einen Umweg über die männlichen Menschen nehmen musste. Sie hatten zu tun, was die Männer als Stellvertreter göttlichen Wollens verlangten.
Die Religion und die Strenge der Geistlichen haben die Unterdrückung der Frauen aber nicht allein ins Werk gesetzt, die weltliche Macht hat mitgeholfen, sie hat stets mit Gewalt gedroht, wenn Arme, Benachteiligte, Fremde oder Frauen Ungehorsam an den Tag legten. In allen traditionalen Gesellschaften war und ist Gleichheit nicht praktisch zu denken. Diese Gesellschaften waren ständisch gegliedert, und die Stände – die Bauernschaft, die Handwerker, die Kriegerkaste, die Gelehrten, die Kirchenleute und der König – konnte man untereinander nicht vergleichen, weil ihr Wirken eine jeweils unterschiedliche Bedeutung für das Ganze hatte. Man dachte in heterogenen Einheiten; die Vorstellung von Homogenität, von einer menschlichen Allgemeinheit ist aber die Voraussetzung für ein Denken in Termini von Gleichheit. So gab es dereinst auch niemand, der sich gleiche Rechte oder Wirkungsräume oder Bewährungsfelder für Männer und Frauen denken konnte; die Menschen des Mittelalters hätten solche Ideen nicht nur für sündhaft, sondern auch für verrückt gehalten, für völlig irreal. Frauen sollten Kinder und das Herdfeuer hüten und Männer die Meere befahren und Länder erobern und alle gemeinsam zum Herrgott beten. Das Feld, auf dem die Menschen in homogenen Einheiten dachten: Wir sind alle Menschen, war einzig das religiöse, insofern es sich auf das Leben nach dem Tode erstreckte. Vor Gott waren alle gleich, aber auf Erden gab es gewaltige Unterschiede, und das war dann ja wohl der Wille Gottes. Hinter den konnte niemand zurück.
Erst seit die Aufklärung Herrschaftsformen überhaupt infrage stellte und fallweise abzuschaffen drohte, erst als die säkulare Gesellschaft am Horizont der Geschichte erschien und mit Immanuel Kant den Gehorsam als Prinzip kritisierte, ist Bewegung und Praxis in das Programm mit Titel »Gleichheit« geraten. Jetzt wurde Gleichheit denkbar und machbar, auch die von Männern und Frauen, zunächst im politischen und juristischen Sinn. Das geschlechtsbezogene Herrschaftsverhältnis war aber über so lange Zeiträume intakt geblieben, dass es sehr tief in alle Verzweigungen des gesellschaftlichen Lebens eingedrungen war und dass wir heute vor der Sisyphusarbeit stehen, es aus diesen Verzweigungen und unseren eigenen Psychen und Verhaltensrepertoires wieder herauszubefördern. Wobei der erste Schritt, nämlich die Erkenntnis: Ja, da gibt es noch hierarchische Auffassungen vom Verhältnis der Geschlechter, also die Dingfestmachung von Herrschaftsansprüchen, häufig überhaupt erst gegangen werden muss. Jeder erkennt Herrschaft, wenn ein Mann eine Frau zu irgendetwas zwingt. Wer aber hätte gedacht, dass die scheinbar so unschuldige Lobpreisung der weiblichen Schönheit etwas mit Herrschaft zu tun haben könnte, dass die Höflichkeitsgesten von Männern gegenüber Frauen eine Art Kompensation für den Ausschluss aus den meisten gesellschaftlich interessanten Unternehmungen darstellten oder dass Hochzeitsfeste, wenn man ihre Rituale deutet, nichts anderes feiern als den Übergang von einer Form der familialen Einhegung weiblicher Existenz zur nächsten? Wer hätte gedacht, dass überall Spuren von Unterdrückung aufgefunden werden können, die der weibliche Teil der Menschheit vonseiten der männlichen erfahren hat?
So weiterhin zu denken, mit einem derart detektivischen Blick auf die Welt zu schauen, gilt heute als überholt und obendrein als ethisch fragwürdig. Für die Gleichstellung sei genug getan worden, und Frauen sollten sich vor einer Selbststilisierung als ewige Opfer hüten. Das ist richtig, dennoch: Es wäre verwunderlich, wenn nach einer so langen Vorgeschichte der Unterdrückung nicht immer noch Spuren, Folgen, geistige Verformungen und unbewusste Verhaltensbereitschaften aus diesem Kontext auffindbar wären, bei Männern und Frauen. Soll man sie auf sich beruhen lassen? Selbst wenn die gesamte Gesellschaft