Viel zu langsam viel erreicht. Barbara Sichtermann
in der Konstruktion männlicher und weiblicher Gelenke, die erheblich sind. Mit Sicherheit entscheidender aber ist die Geschichte der Menschheit, verstanden als Summe der Entfaltungsmöglichkeiten beider Geschlechter. Ähnlich verhält es sich mit männlichen und weiblichen Stimmen. Ein Bass füllt einen großen Saal, die Luft schwingt bereitwillig unter seinem Atem und produziert mächtige Schallwellen. Ein Sopran spielt auf ganz anderen Frequenzen, und seine Kraft, einen Raum zu füllen, scheint geringer. Aber ob das nur an der Anatomie der jeweiligen Kehlen liegt, muss bezweifelt werden. Denn dem stimmlichen Ausdruck teilt sich stets die Psyche mit. Dass in Talkshows heute noch das weibliche Timbre öfter zittert als das männliche und deshalb von den Moderatoren bereitwilliger in seinem Vortrag unterbrochen wird, hängt damit zusammen, dass alle Frauen einen Rucksack tragen, auf dem das Paulus-Wort geschrieben steht: »Die Frau schweige in der Gemeinde.« Sie hatten allzu lange nicht die geringste Chance, ihre Stimmen in weiten Räumen widerhallen zu lassen. Allgemein gilt: Die Größe des Raumes, den das eine oder das andere Geschlecht einnehmen durfte und darf, ist der bedeutendste und auch am leichtesten messbare Unterschied zwischen ihnen. Er ist riesenhaft.
Wir wissen nicht, wann es begonnen hat, dass die Männer die Frauen im Hause hielten – ähnlich dem Nutzvieh, das sich auch nicht entschließen konnte, wieder in die Wildnis hinauszulaufen, nachdem es einmal gezähmt und im Stall eingesperrt war. Vielleicht konnte es sich entschließen, aber es konnte seinen Entschluss nicht in die Tat umsetzen. Der Vergleich zwischen Nutzvieh und Frauen hinkt insofern, als die Frauen den Prozess ihrer Einhegung an der Seite und nach dem Gebot der Männer über lange Zeiträume hinweg scheinbar einvernehmlich mitgetragen haben. Jedenfalls sind größere Aufstände nicht geschichtsnotorisch geworden. Auch wurden Frauen nicht gezähmt wie Pferde, sondern entwickelten ihre zahme Seite stetig und nolens volens sich anpassend an die rohen Umstände der menschlichen Anfänge. Wir hätten so gern eine Ursprungsgeschichte, in der es erstmalig passiert wäre, was dann für lange Zeiten gelten sollte: dass die Männer ihre Herrschaft über die Frauen etabliert und sie eingesperrt haben, aber die gibt es nicht. Was in der Bibel über den Gehorsam steht, den die Frau dem Manne schulde, baut ja schon auf einer Vorgeschichte auf, die in graue Urzeit zurückweist, das Herrschaftsverhältnis nur noch mal in Schriftform beglaubigt und es auch noch heiligspricht. Es wird so gewesen sein, dass ihre überlegene Körperkraft und sthenische Angriffslust es den Männern nahelegte, sich die Frauen zu unterwerfen – mit eben den Mitteln der Gewalt, die sie in der beständigen Auseinandersetzung mit männlichen Rivalen (um Land und andere Ressourcen, zu denen auch die Frauen gehörten) ausgebildet hatten. Wie das im Einzelnen vor sich ging, ist (für unsere Fragestellung) gleichgültig. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir keinen Mythos besitzen, in dem die Hierarchie zwischen den Geschlechtern erfunden und festgeschrieben wurde und den wir heute umschreiben könnten, sondern dass die Vorgeschichte aller Wahrscheinlichkeit nach kalt, grausam und blutig und weitgehend wortlos verlief. Und dass es keine Rücksicht gab auf zarte Kinder und stillende Frauen, außer dem Schutz durch einen Mann, der imstande war, Gegner aus dem Feld zu schlagen und mit genügend Jagdbeute in die Höhle zurückzukehren.
Wenn wir die Dinge so sehen, erkennen wir, dass die Emanzipation erst beginnen konnte, nachdem die Legitimität der Gewalt durch das geschriebene Recht und die Idee der Gleichheit so weit eingeschränkt war, dass kleinere, schwächere und mit Piepsstimmen geschlagene Menschen ihre Würde und ihre Unversehrtheit in der Welt der Gedanken, aber auch praktisch vor Gericht und schließlich in der öffentlichen Meinung verteidigen konnten. Mit anderen Worten: Es waren die Verkündigung der Menschenrechte und die Konzentration der Gewalt beim Staat nach der Aufklärung, die der Frauenemanzipation zuarbeiteten. Ohne sie wäre an Gleichstellung niemals zu denken gewesen. Wenn wir die Perspektive umkehren und die Menschenrechte mit einer Herausforderung an alle politischen Systeme in der Zeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbinden, die von willkürlicher Gewalt geprägt waren, erkennen wir ferner, dass Frauenemanzipation eine Abkehr von jeder Art Gewaltherrschaft zur Voraussetzung hat. So einfach ist das. Die Emanzipation verlangt als Bedingung ihrer Möglichkeit eine zivilisatorische Stufe, welche die Gewalt als politische teilt, als körperliche ächtet und einhegt, beim Staat konzentriert und gegebenenfalls sanktioniert. In Diktaturen mit gewaltbereitem Untergrund sind Frauenrechte keinen Pfifferling wert. Sie sind die schöne Blüte einer Gesellschaft, in der das Recht die Gewalt bezwungen und sich die Gleichheit von einem bloßen Motto zu realer Chancenvielfalt entwickelt hat. Insofern sind die Verteidigung der Demokratie und der Kampf gegen jegliche Diskriminierung das Erste und Beste, was zur Sicherung der Emanzipation, ihrer Gewinne und Errungenschaften, getan werden muss.
So ist denn auch die Selbstbefreiung der Frauen in den letzten hundertfünfzig Jahren, in denen die modernen westlichen Gesellschaften entstanden sind, mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten. Das Jahrhundert davor darf man schon mitrechnen, allerdings lief die Emanzipation ab dem Ende des 18. Jahrhunderts noch im Schneckentempo. Es gab Unterbrechungen, es gab Neuansätze, es gab vor fünfzig Jahren einen Aufbruch mit enormem Crescendo. Aber derzeit stecken wir in einer Generalpause. Frau weiß nicht recht, was tun, um weiter voranzukommen. Auch fühlt sie sich unter Druck durch die politische Rechtsentwicklung überall in der westlichen Welt, es schwelt die böse Ahnung, dass Fremdenhass, Rassismus, Misogynie, Nationalismus, eine weitere Aufwertung von Dominanzgesten auf militärischem Gebiet und Ellenbogenmentalität im wirtschaftlichen Bereich auch Frauenrechte nicht unangetastet lassen werden. Noch ist die Bedrohung eher atmosphärischer Natur. In dieser Situation könnte es nützlich sein, sich bewusst zu machen, was Emanzipation jenseits von verbrieften Rechten bedeutet und was es eigentlich gewesen ist, das Frauen über so viele Jahrhunderte vorenthalten wurde. Und da ist ein wichtiges Stichwort: Räume.
Frauen sollten in Innenräumen verbleiben, dort, wo man sie nicht sah und wo sie ihrerseits nichts Neues sehen und erleben konnten. Die raumgreifenden Schritte waren den Männern vorbehalten. Frauen trippelten. In China verwehrte man ihren Füßen durch Einbinden das natürliche Wachstum, sodass sie nur zu Trippelschritten fähig waren. Lassen wir die Schuhmode unserer Zeit beiseite. Die Modi der Verhinderung, mit denen man Frauen in Binnenbereichen hielt und sie vom Erkennen, Beschreiten und Erobern der Außenräume, gedanklicher und gegenständlich-irdischer, abhielt, waren vielfältig. Hier interessieren erst mal Räume im Sinn von Territorien. Schauen wir den Männern zu, wie sie sich die Erde untertan gemacht haben.
Der Welthandel und die Kriegskunst waren die großen Bewährungsfelder, auf denen junge und reife Männer seit der Antike ihre Kräfte und Fähigkeiten entwickelten, einsetzten und aneinander maßen. Es ging immer darum, Räume zu erschließen, zu erobern und zu sichern. Dafür wurden fantastische Leistungen erbracht. Die Schifffahrt in der Antike, der Vorstoß nach Afrika und Asien, schon der Bau der großen Segler und Ruderboote, das waren gewaltige Abenteuer und berauschende Erfahrungen. Von den Seeschlachten mit ihren unermesslichen Opfern an Menschen und Material berichten die Historiker schaudernd. Die Kriege des Mittelalters und der Neuzeit, die Kreuzzüge, die Religionskriege, die Kabinettskriege, die Weltkriege, sie wollten weiterhin Räume besetzen, aneignen, aufteilen, bebauen, sie entfesselten eine sich steigernde Gewalt, sie erschütterten die Menschheit und stifteten sie an zu epochalen Werken in der Theorie, der Philosophie und Dichtkunst, Werke, in denen man darum rang, die eigene menschliche Natur und ihr schöpferisches Vermögen ebenso wie ihren Zerstörungsdrang zu verstehen und Werte zu entwickeln, an denen gemessen das menschliche Zusammenleben stabiler werden könne. Derweil bearbeitete auch das zivile Leben mit Landwirtschaft, Handwerk und Städtebau die irdischen Räume. Es gab ferner die Epoche der großen Entdeckungen: Auf dem Seeweg nach Indien stieß man auf Amerika, und so ging es weiter, bis die Umrisse der Pole und der letzten unbekannten Inseln die Landkarte der Erde vervollkommneten. Sie ist ein grandioses Epos, die Eroberung, Besetzung, Aufteilung und Nutzung des irdischen Raumes.
Und sie ist eine Erzählung ganz ohne weibliche Autoren. Abgesehen von der Kleinlandwirtschaft, in der Frauen tätig waren, soweit der Zustand ihrer Füße es ihnen erlaubte, waren sie an der Aneignung des Raumes, so wie er die Menschheitsgeschichte bis ins vorletzte Jahrhundert hinein geprägt hat, nicht beteiligt. Was bedeutet das für ihre Psychen, für ihr Selbstbewusstsein, für ihr Tun und Lassen? Und was hat ihre Rolle als Entdecker und Krieger aus den Männern gemacht? Die Tatsache, dass die großen Feldzüge, Erkundungszüge, Eroberungszüge, Welthandelskompanien und Städtebauarbeiten eine rein männliche Angelegenheit waren, muss etwas heißen für die Entwicklung der Geschlechter. Man befindet heute,