Kapitalismus und Opposition. Herbert Marcuse
und Praxis. Die letzte der elf sogenannten Thesen über Feuerbach ist berühmt wie berüchtigt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«17 Philosophische Interpretation muss zur politischen Veränderung werden,18 weil die Welt notwendig verändert werden muss, soll sie nicht untergehen; und das ist nicht nur Aufgabe »der Philosophen«, sondern Beruf aller Menschen, um der Menschheit willen. In dieser Notwendigkeit wird verändernde Praxis zur Signatur der kritischen Theorie; denn solche kritische Theorie ist ein soziales Verhältnis, das über diese soziale Verhältnismäßigkeit sich reflexiv und radikal aufzuklären versucht, und insofern ihrem theoretisch emphatischen Begriff von Kritik nach immer schon praktisch ist.19 Gerade Marcuse hat das in seinem Begriff einer kritischen Theorie hervorgehoben.
Kritische Theorie ist kritische Theorie der Gesellschaft; ihre Grundlegung ist die Kritik der politischen Ökonomie. Kants Begriff der Aufklärung und Kritizismus, Hegels Logik und Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, Marx’ historischer Materialismus und Freuds Psychoanalyse sind die Fundamente der kritischen Theorie, wie Max Horkheimer sie 1937 begrifflich bestimmte: die kritische Theorie steht einer traditionellen Theorie gegenüber, die sie zugleich, in ihrem kritischen Potenzial, das in ihr idealistisch verfangen bleibt, in der materialistischen Verwirklichung der idealistischen Begriffe aufhebt und eben als kritische Theorie fortsetzt.20 Diese an die Theorie rückgekoppelte Dialektik von Aufhebung und Verwirklichung21 begründet kritische Theorie als ein gesellschaftliches Verhalten.22 Horkheimer und Marcuse haben das in ihrem zweiteiligen Essay Philosophie und kritische Theorie ausgeführt (jeder zeichnet für einen Teil verantwortlich),23 inwiefern sich damit der Begriff und der Status von Theorie selbst verändert: indem kritische Theorie einerseits die »idealistischen« Abstraktionen der Theorie als konkrete Praxis beziehungsweise praktische Konkretion begreift, indem sie andererseits die Theorieproduktion als vergesellschaftete und gesellschaftliche Wissenschaft und Wissenschaft als vergesellschaftete und gesellschaftliche Theorieproduktion fasst.24
Diese Spannung, dass die kritische Theorie der Gesellschaft mit ihrer gesellschaftlichen Gebundenheit vermittelt zu begreifen ist und deshalb notwendig auf ihre Bedingungen der Möglichkeit von Kritik reflektieren muss, hat Marcuse im Eindimensionalen Menschen zeitgemäß vergegenwärtigt:
»Von Anbeginn steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an denen die Analyse Werturteile einschließt:
1. das Urteil, dass das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab;
2. das Urteil, dass in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der Beweis muss auf empirischem Boden geführt werden. Der etablierten Gesellschaft steht eine nachweisbare Quantität und Qualität geistiger und materieller Ressourcen zur Verfügung. Wie können diese Ressourcen für die optimale Entwicklung und Befriedigung individueller Bedürfnisse und Anlagen bei einem Minimum an schwerer Arbeit und Elend ausgenutzt werden? Die Gesellschaftstheorie ist eine historische Theorie, und die Geschichte ist das Reich der Notwendigkeit. Daher ist zu fragen: welche unter den verschiedenen möglichen und wirklichen Weisen, die verfügbaren Ressourcen zu organisieren und nutzbar zu machen, bieten die größte Chance einer optimalen Entwicklung?«25
Diese Frage ist nicht positiv zu beantworten, sondern negativ: Dieselben Kräfte der technologischen Rationalität, die Herrschaft, Elend und Leid vermehren, können auch die Kräfte sein, die eine Befreiung und Befriedung des Daseins bedingen. Die Logik des Fortschritts, die daraus resultiert, ist fatal und pervers: Auschwitz und Hiroshima bedeuten einen grausamen Höhepunkt der Dialektik der Aufklärung; trotzdem ging das Morden weiter, hat es Genozid gegeben, nicht nur in Kambodscha und Ruanda, und ein Ende des Terrors ist – seit der IS wütet – nicht abzusehen. Und dennoch: Die Lebensverhältnisse im zwanzigsten Jahrhundert haben sich verbessert, nicht nur für die Bevölkerungen in den westlichen Industrienationen. Doch die Zahlen sind zynisch: In den 1980er Jahren starb alle zwei Sekunden ein Kind an Unterernährung; ist es nicht obszön, wenn es ein Fortschritt sein soll, dass heute »nur noch« alle zehn Sekunden ein Kind verreckt, weil ihm das Nötigste fehlt? Es sterben weniger Menschen in Kriegen als früher; aber es gibt Kriege, und das Töten, Morden, Verstümmeln, Vergewaltigen geht weiter. Naturkatastrophen – Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Epidemien – sind heute immer auch soziale Katastrophen:26 Die internationale Gemeinschaft hilft, und dennoch bieten die Krisengebiete ein schreckliches Bild, geprägt von unterlassener Hilfeleistung. Die ökologische Zerstörung wird eingedämmt, gleichwohl: Die Umwelt ist zerstört; regenerative Maßnahmen müssen nicht nur für die Zukunft wirksam sein, sondern jetzt sofort die Natur wiederherstellen.
Der rationale Charakter der Irrationalität
Die grausame, perfide, weil sowohl das gute Leben wie das elende Sterben bedingende, Logik der Geschichte ist zum Schicksal geronnen, »objektiv«. Es braucht ein historisches, ein revolutionäres Subjekt, um diese Logik aufzuklären, um dieses Schicksal zu bezwingen; solche Aufklärung ist notwendig Selbstaufklärung, und derart das Schicksal zu bezwingen, heißt, sich seine verhohlene Lebensgeschichte wieder anzueignen. Es geht ebenso um die Menschheitsgeschichte wie um die Individualgeschichte; dass vom Leben der Einzelnen das Leben aller abhängt, macht den besonderen Charakter der Revolution aus, die heute ins Auge gefasst werden muss, um die Gewalt des Zusammenhangs zu durchbrechen. Für die kritische Theorie der Praxis bedeutet das, dass kein historisches Subjekt sich unmittelbar aus den objektiven Strukturen ergibt – außer die Menschheit, der Mensch selbst.
Marcuse hat darauf hingewiesen:27 Zwar ist die Arbeiterklasse an sich das revolutionäre Subjekt, für sich ist sie es aber nicht; in ihren Interessen (»Klasseninteresse«) und Kämpfen (»Klassenkampf«) ist sie in die bestehende Ordnung längst integriert, dass es für sie – als Proletariat, also als Kollektiv – keinen Grund gibt, um einzelne Lebensverhältnisse zu verbessern, den Kapitalismus als Ganzes infrage zu stellen und die Welt zu verändern.28
»Die Transzendenz der bestehenden Bedingungen (von Denken und Handeln) setzt Transzendenz innerhalb dieser Bedingungen voraus.«29 Das historische Subjekt repräsentiert diese Transzendenz: Die Überschreitung der bestehenden Verhältnisse ist auch eine Selbstüberschreitung; das historische Subjekt konstituiert sich überhaupt erst in der (Selbst-) Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte – und zugleich wird es damit geschichtlich handlungsfähig. Marx hat das benannt: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«30
Aber auch das unmittelbar notwendige historische Subjekt revolutionärer Praxis ist nicht notwendig revolutionär: Mensch und Menschheit sind auf ihre Geschichte zurückgeworfen, auf die sie insofern keinen Zugriff haben, als dass sie ihnen so abstrakt (»unwirklich«) erscheint wie sie selbst (»Was ist schon angesichts der Vielfalt menschlichen Lebens eine konkrete Bestimmung des Menschen?). Solche Abstraktion ist nicht nur falsche Abstraktion, sondern zugleich gesellschaftlich notwendige Abstraktion, um als Mensch niemals als Mensch in Aktion zu treten, sondern in den entsprechend sozialisierten Rollen (Konsument, Bürger, Frau, Mann, »Individuum« etc.); eine gesellschaftlich notwendige Abstraktion, die überdies viel, ja wesentlich notwendiger erscheint als die Notwendigkeit, die Erde vor der menschengemachten Vernichtung zu bewahren und so die Menschheit selbst zu retten. Dass das naiv klingt, obwohl es das dringlichste wäre, verweist auf einen »der beunruhigendsten Aspekte der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation […]: de[n] rationalen Charakter ihrer Irrationalität.«31
Es geht ums Ganze
»Dies ist die Ausprägung des Widerspruchs im 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite die steigende Produktion von Gütern, die ein Reich der Freiheit, Freude und kreativer Betätigung schaffen könnte. Auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung der Mühen und entfremdeter