Kapitalismus und Opposition. Herbert Marcuse

Kapitalismus und Opposition - Herbert Marcuse


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Verhältnis von »Kapitalismus und radikaler Opposition« ist ein dialektisches Verhältnis, das Marcuse in seinen Pariser Vorträgen in Begriffen des historischen Materialismus expliziert. 1974 ist Marcuse an der Universität Vincennes, zehn Jahre zuvor erscheint Der eindimensionale Mensch: Die in diesem Buch anvisierten historischen Möglichkeiten bestimmen die gegenwärtige Wirklichkeit dieser zehn Jahre von Mitte 1960er bis Mitte 1970er – eine Wendezeit, die beides war: eine revolutionäre Situation und eine »Kette von Begebenheiten«.32 Wie Marx mit seinen Pariser Manuskripten – den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 (auf die ja im Übrigen Marcuse 1932 als einer der ersten rezipierend reagiert, was nicht nur seine eigenen Schriften nachhaltig bestimmt)33 –, bezeichnet auch Marcuse mit seinen Vortragsüberlegungen zum Verhältnis von Kapitalismus und radikaler Opposition eine geschichtliche, um nicht zu sagen: weltgeschichtliche Kulmination.

      Die zehn Jahre von 1964 bis 1974 sind die grausamen Jahre des Vietnamkriegs, es sind die unheilvollen Jahre der chinesischen Kulturrevolution; es sind die Jahre, in denen in Argentinien, Chile, Brasilien der Militär-Terror herrscht; in Europa regiert in Spanien noch immer Franco (ökonomisch das Land für den Massen- und Pauschaltourismus öffnend); der sozialökonomische Wandel vom Fordismus zum Postfordismus charakterisiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft, die durch Automatisierung und Rationalisierung der Produktion gekennzeichnet ist, schließlich auch durch Computerisierung und Digitalisierung – mithin eine Informationslogik, die mehr und mehr auch in das Alltags- und Freizeitleben eindringt (Elektronik und Mikroelektronik bestimmen zunehmend die Apparate und Gadgets der Unterhaltung).

      In seinen Pariser Vorlesungen wendet sich Marcuse gegen Konzepte wie das der »postindustriellen Gesellschaft« (bekannt geworden vor allem durch Daniel Bell; fünf Jahre nach Marcuse, 1979, hat allerdings Jean-François Lyotard diesen soziologischen Befund aufgenommen und mit ihm den gesellschaftskritischen Begriff der Postmoderne geprägt).34

      Marcuse kann seinerzeit, inmitten der noch offenen »Dialektik der Befreiung«35 und trotz der »Konterrevolution«, noch auf die Möglichkeit der Revolte hoffen, die wenigstens die Idee einer Welt jenseits des Kapitalismus lebendig hält. Gerade die Postmoderne, die als allgemeine Ideologie seit den späten 1970ern das soziale Lagebewusstsein – wenn auch diffus – bestimmt, bringt hier einen gravierenden Einschnitt: Fredric Jameson hatte darauf in den 1980ern hingewiesen, Slavoj Žižek hat es später wieder aufgegriffen – und Mark Fisher hat daran erinnert: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.« Der Kapitalismus erscheine nunmehr als »das einzig gültige politische und ökonomische System«; es sei, so Fisher, »mittlerweile fast unmöglich geworden […], sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.«36 Der Kapitalismus habe sich endgültig als »Realismus« erwiesen: ein Realismus ohne Alternative; anders gesagt: Der Kapitalismus sei eine Wirklichkeit, die keine Möglichkeit mehr kennt.

      Richtig daran ist, dass der Kapitalismus eine Wirklichkeit darstellt, die alle verfügbaren Möglichkeiten, alle Alternativen also, als immanentes Angebot liefert; es ist überhaupt nicht nötig, sich eine Welt jenseits der Prinzipien von Verwertungslogik, Lohnarbeit (und ohnehin sinnloser und überdies krankmachender Arbeit), als »frei« verkaufter Marktungleichheit, Leistungszwang und dergleichen vorzustellen, weil die Vorstellungen von »Alternativen« und »Möglichkeiten« innerhalb des Kapitalismus vollends – und das meint auch: allein schon als Vorstellung – befriedigend sind. Mit anderen Worten: Es gibt offenbar kein vitales Bedürfnis nach einem Leben jenseits der bestehenden Verhältnisse.37 Marcuse hatte darauf schon 1964 hingewiesen: »Was heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur.«38

      Eine Vorstellung vom Ende des Kapitalismus, die eine Gesellschaft entwirft, die, einmal über den Kapitalismus hinaus entwickelt, dem menschlichen Leben und Zusammenhalt, eine gänzlich neue Qualität verleiht, weil Mensch und Menschheit in ihrem Bewusstsein der Freiheit sich in konkreter Weise neu erfinden können, – eine solche Vorstellung ist, angesichts selbst der gegenwärtigen Virulenz ökonomischer und sozialer Krisen, die strukturell mit dem Kapitalismus zu tun haben, schlichtweg unsinnig.

      Die Situation ist paradox: Die Kritik am Kapitalismus füllt Regalmeter um Regalmeter in den Buchhandlungen, in öffentlichen Debatten wird allenthalben über das Ende des Kapitalismus diskutiert (zumindest ist die Formel vom Ende des Kapitalismus freimütig im Umlauf), aber nicht mit der Konsequenz, dass die Kritik zugleich über diesen Kapitalismus hinausweisen muss. So werden sämtliche Gegensätze (»Widersprüche«), die eigentlich die revolutionären Tendenzen des Systems bezeugen könnten, soweit identifiziert (also: »gleichgemacht«), dass überhaupt kein Außen gedacht werden kann. »Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser Gegensätze – es geht ums Ganze. Zugleich kann die Stellung der Theorie nicht eine bloße Spekulation sein. Sie muss insofern eine historische Stellung sein, als sie in den Fähigkeiten der gegebenen Gesellschaft begründet sein muss.«39

      Die Fantasie an die Macht

      »L’imagination au pouvoir!«

      Parole der Pariser Studenten, Mai 196840

      »Lieber Herr Adorno, in Paris ist die physische Luft verpestet, die intellektuelle Luft aber ist reiner denn je. Man lebt in einer Art Rauschzustand […] Die Situationisten sind ins Théatre de France am Odeon eingedrungen. Dort flattern jetzt eine schwarze und eine rote Fahne. ›L’imagination a pris le pouvoir‹ erklären sie. Barrault musste abtreten. Stattdessen diskutieren dort Schauspieler, Neugierige und Studenten die kulturelle Revolution […] Ach, wenn doch die ›attraction‹ endlich auch einmal den Seelenhaushalt der ordnungsliebenden Deutschen durcheinanderbrächte!«

      Elisabeth Lenk, Brief an Theodor W. Adorno, Paris, den 15. Mai 196841

      Die Fantasie an die Macht – eine radikale gesellschaftliche Opposition kann nur an solche Motive und Parolen anknüpfen, und zwar immer nur im kritischen Rekurs auf die – eigene – Geschichte des Scheiterns menschlicher Emanzipation. Dies bringt zwei Motive hervor, die augenscheinlich soweit gegeneinanderstehen, dass das eine nur als Luxus in Anbetracht des anderen erscheinen muss.

      Das eine Motiv folgt einem Satz von Jean Ziegler: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.«42

      Das andere Motiv ist von Marcuse: »Schönheit und Vollkommenheit […] Kraft dieser Qualitäten kann die ästhetische Dimension als eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft dienen. Eine Welt menschlicher Verhältnisse, die nicht mehr durch den Markt vermittelt sind, nicht mehr auf wettbewerblicher Ausbeutung oder Terror beruhen, erheischt eine Sensitivität […], die für jene Formen und Eigenschaften der Wirklichkeit empfänglich ist, die bislang nur mittels ästhetischer Phantasie entworfen wurden.«43

      Diese beiden Motive sind von jeder radikalen Opposition in der politischen Praxis wach zu halten, und sollten auch schon heute das Zusammenleben der Menschen bestimmen. In entscheidender Weise wirkt das auf die radikale Opposition zurück. Die radikale Opposition ist nicht identisch mit ihrer Organisation; sie kann nur aus lebendigen Subjekten bestehen (und eben nicht aus Parteien, Vereinen und Verbänden, Volk und Völkern etc., letzthin auch nicht aus Gruppen oder Klassen, schließlich ebenso wenig aus der unbestimmten Masse oder irgendeiner noch unbestimmteren Menge, Multitude). Die radikale Opposition wird gebildet aus und von einzelnen Menschen, aus und von Frauen, Männern und allen möglichen Geschlechtern; sie wird gebildet aus veränderungswilligen, interessierten Individuen, die, aufgeklärt für Emanzipation streitend, »den abstrakten Staatsbürger in sich zurück[zunehmen]«44 bereit sind (oder freilich das mindeste, was staatsbürgerlich noch zugestanden wird, schlechterdings aufzugeben).

      Die radikale Opposition sind die Wenigen, die sich dem realen Humanismus verpflichtet sehen. Es ist eine radikale Opposition im Sinne der Großen Weigerung – bestrebt, nicht Schadensbegrenzung zu betreiben und notdürftig die Mängel des kapitalistischen Systems auszubessern, sondern wirklich die Welt zu reparieren, sie in Ordnung zu bringen, und zwar in menschliche Ordnung. Und im Sinne solcher Großen Weigerung ist die Opposition deshalb radikal, weil sie – nach Marx’ bündigem Hinweis – an die


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