Ideologie, Kultur, Rassismus. Stuart Hall

Ideologie, Kultur, Rassismus - Stuart  Hall


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entscheidende, vor allem keine autonome Rolle spielen. Die Bourgeoisie hat sich bereits voll herausgebildet und ist in ihren Hauptfraktionen auf der politischen Bühne vertreten, wobei jede Fraktion bald die eine, bald die andere Partei oder Gruppierung gegeneinander ausspielt, bald die eine, bald die andere mögliche Lösung ausprobiert. Sie hat ihre historische Rolle jedoch noch lange nicht erfüllt; vor allem hat sie bis jetzt noch keineswegs jene Klassen, die aus früheren Produktionsweisen hervorgegangen sind, in ihren hegemonialen Bann »geschlagen«. Von daher ist die Bourgeoisie noch nicht in der Lage, von sich aus und auf eigene Faust von der französischen Gesellschaft Besitz zu ergreifen und deren kulturelle und politische Strukturen den Bedürfnissen der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise »anzupassen«. So stolpert die Republik von einer instabilen Koalition zur anderen; sie durchläuft das gesamte Repertoire der republikanischen und demokratischen Formen: gesetzgebende Versammlung, parlamentarische Demokratie, bürgerlich-republikanische, republikanisch-sozialistische Demokratie. Jede »Form« ist der Versuch einer der Fraktionen der Bourgeoisie, ihre jeweilige politische Hegemonie – stets im Rahmen eines zeitweiligen Bündnisses – zu sichern. In dem Maße, wie sich die einzelnen Bündnisse erschöpfen oder besiegt werden, verringert sich die soziale Basis für eine mögliche Lösung – das Proletariat ist in jedem dieser Bündnisse entweder ein zweckdienlicher und untergeordneter Partner oder – als sich das Ende nähert – die isolierte Kraft. Und schließlich, nachdem sich alle möglichen Lösungen erschöpft haben, wirkt das labile Gleichgewicht der Kräfte auf der Bühne zugunsten von Napoleon Bonaparte, der »gerne als der patriarchale Wohltäter aller Klassen« auftreten möchte, aber nur weil er sie bereits besiegt hatte: »Frankreich braucht vor allem Ruhe.«

      Wir müssen uns hier auf zwei Aspekte dieser Beweisführung beschränken: auf die Frage der Klassen und ihrer politischen »Erscheinungsformen« sowie auf das Problem der »Determination in letzter Instanz« der Formen und Ergebnisse des politischen Kampfes durch die ökonomische Produktionsweise.

      Zunächst fällt auf: Obwohl die Strukturanalyse der Hauptklassen der kapitalistischen Produktionsweise durchgehend den analytischen Rahmen der gesamten Darstellung bildet – das und nichts anderes verleiht der gesamten, verwirrenden und dramatischen Erzählung ihren logischen Zusammenhang –, treten auf dieser Bühne keine »Klassen als solche« auf. Das Proletariat ist die Klasse, die am häufigsten als »Block« vorgeführt wird, aber selbst hier durchkreuzt die Bestimmung der spezifischen und problematischen Rolle des »Lumpenproletariats« die Tendenz, das Proletariat im Zusammenstoß der Positionen als eine einheitliche Kraft darzustellen. In Bezug auf das Kapital unterscheidet Marx stets dessen vorherrschende Fraktionen: »das große Grundeigentum«, »die große Industrie«, »der große Handel« (MEW 8, 138f.), die »zwei großen Interessen« des Kapitals (ebd.), »Finanzaristokratie«, »industrielle Bourgeoisie« (121) etc. Das Kleinbürgertum – »eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen« (144) – wird de facto zum Dreh- und Angelpunkt. Und wenn Marx schließlich zur Kennzeichnung der Klassenposition Napoleons kommt, verweist er auf die Präsenz einer Klasse, die eigentlich eine niedergehende historische Kraft war, und schält ihre Hauptfraktion heraus: die »kleinen Parzellbauern«.

      Zweitens muss erwähnt werden, dass keine dieser Fraktionen auf der politischen Bühne jemals isoliert agiert. Der Schlüsselbegriff, der die verschiedenen Klassenfraktionen mit den politischen und konstitutionellen Formen verbindet, ist das Bündnis oder, genauer gesagt, das wechselnde und sich ständig neu zusammensetzende Bündnis oder der Klassenblock. Die erste verfassungsmäßige Form der »Krise« ist die der bürgerlichen Republik. Sie wurde durch den Juni-Aufstand des Pariser Proletariats hervorgerufen, das aber, obwohl es die Hauptlast des Kampfes trug, in dem politischen Bündnis nur eine untergeordnete Rolle spielte. Eine Zeitlang sind die führenden Fraktionen des Bündnisses die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie mit Unterstützung des Kleinbürgertums.

      Auf der politischen Bühne stehen noch andere entscheidende Kräfte, die klassenmäßig nicht eindeutig einzuordnen sind: die Armee, die Presse, Intellektuelle, die Priester, die ländliche Bevölkerung. Gelegentlich deutet Marx den Klasseninhalt dieser unterstützenden Schichten und Cliquen an: So nennt er zum Beispiel die Mobilgarde das »organisierte Lumpenproletariat« (121). Hier taucht das Pariser Proletariat zum letzten Mal als ein bestimmender Faktor auf; danach wird die Sache »hinter dem Rücken der Gesellschaft« geregelt. Das Proletariat befindet sich jedoch bereits in einem Bündnis, dessen führende Fraktion aus einer anderen Klasse herkommt. Die Republik offenbart somit nur »die uneingeschränkte Despotie einer Klasse über andre Klassen« (122). Dennoch hat diese instabile politische Form eine strukturelle und historische Funktion: Sie ist die klassische »politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd.). Ihre »Geschichte« ist zu diesem Zeitpunkt die »Geschichte der Herrschaft und der Auflösung der republikanischen Bourgeoisfraktion« (124). In Opposition zu ihr steht die »Partei der Ordnung«, die sich hinter den alten Parolen von Eigentum, Familie, Religion und Ordnung sammelt. In dieser Situation tritt dieses Bündnis in seiner zweifachen royalistischen Verkleidung auf– als legitimistische Bourbonen und als Orleanisten. Indes hat auch dieser labile Block seine Klassenzusammensetzung: Hinter den »verschiedenen Schattierungen des Royalismus« vereinigen sich die »großen Grundeigentümer« mit ihren Cliquen und Truppen (Pfaffen und Lakaien), »die hohe Finanz, die große Industrie, der große Handel, d.h. das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern« (138f.). Auch hier versteckt sich der Kampf um die Vorherrschaft hinter der notwendigen Einheit angesichts der »Partei der Anarchie«. Was sie grundsätzlich spaltet – und sie dazu trieb, »jedes seine eigne Suprematie und die Unterordnung des anderen zu restaurieren« (139) – waren nicht nur ihre materiellen Existenzbedingungen (»zwei verschiedene Formen des Eigentums«), sondern auch die ideologischen Traditionen, durch die sie jeweils geformt worden waren. Das ist eine von vielen Stellen, an denen Marx die spezifische Wirkung der jeweiligen ideologischen Dimension des Klassenkampfes auf das Politische zeigt, wobei er allerdings noch eine weitere komplexe Ebene hinzugefügt hat: »Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen.« (139) Man muss ferner klar »die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden« (ebd.). Was diese Fraktionen von sich selbst in der Situation des Mai »dachten«, lässt sich zwar in letzter Instanz auf ihre materielle Existenzgrundlage zurückführen, hatte aber reale und eigenständige Auswirkungen – wie der Achtzehnte Brumaire auf dramatische Weise vorführt. Marx führt für jedes »Moment« der Situation im Brumaire die gleiche Analyse durch: die Bildung komplexer Koalitionen, die auf Klassenfraktionen beruhen, ihre inneren Widersprüche, die »Notwendigkeit« der politischen Positionen, zeitweiligen Programme und ideologischen Formen, in denen jene »Interessen« auftreten.

      Der dritte Punkt bezieht sich auf die Frage, wie diese politischen Fraktionen und Schichten im Verlauf des Kampfes sich politisch darstellen. Die beiden Hauptfraktionen der Großbourgeoisie erscheinen auf der politischen Bühne in ihren jeweiligen royalistischen Gewändern, aber das »Stück«, das dieses Bündnis objektiv auffuhrt, ist nicht die Restauration ihrer jeweiligen Herrschaftshäuser. Ihre Vereinigung zur »Partei der Ordnung« und ihre Repräsentation durch diese Partei wirft die Frage nach der Herrschaft der Klasse »als solcher« auf und nicht die nach der Vorherrschaft einer Fraktion über die andere. Objektiv gesehen macht gerade diese zeitweilige und unheilige Allianz sie zu »Repräsentanten der bürgerlichen Weltordnung«. Marx kehrt immer wieder zu dieser zentralen Frage des »Klasseninhaltes« und seiner politischen Repräsentationsweise zurück. Es geht nicht einfach darum, dass die Repräsentation von Klasseninteressen durch politische Bündnisse und »Parteien« niemals eine geradlinige Sache ist. Das politische Interesse einer Klassenfraktion kann auch durch die Rolle, die eine andere Fraktion auf der politischen und ideologischen Bühne spielt, vertreten werden. Marx’ Darstellung der Koalition zwischen Proletariat und Kleinbürgertum in der »sogenannten sozial-demokratischen Partei« (141) bietet dafür ein hervorragendes Beispiel. Diese »Partei« handelt zunächst unmittelbar im Interesse derjenigen, die durch die erzwungene Umgruppierung der bürgerlichen Truppen zu kurz gekommen waren. Ihre innere Struktur ist widersprüchlich: Indem es sich einordnet, wird dem Proletariat »die revolutionäre


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