Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
nichts Verwerfliches fand, egal was ihr Vater davon halten mochte. Für Mira waren sie nur ein unermesslicher Reichtum, zu groß, als dass ein Mensch ihn hätte fassen können. Und fast schien es Mira auch, als besäße Edmund Porter die Bücher gar nicht wirklich, sondern verwalte sie nur. Als hüte er die niedergeschriebenen Abenteuer und Geschichten und insgeheim vielleicht einen noch viel größeren Schatz.
„Ich weiß nicht.“ Mira ging hinüber zu einem der deckenhohen Regale und strich mit der Hand über die Rücken der Bücher, die dort feinsäuberlich aufgereiht standen. „Etwas Spannendes. Eine andere Welt.“
Edmund Porter nickte. „Da wirst du hier fündig werden. Sieh dich nur in aller Ruhe um, ob du noch ein Buch findest, das du noch nicht gelesen hast.“ Kurz warf er einen sehnsuchtsvollen Blick zu seinem Ohrensessel, als hätte er sich gerne wieder dort niedergelassen, mit seiner Pfeife und dem Buch, das auf der Armlehne lag.
„Ist es gut?“, fragte Mira, die seinem Blick gefolgt war.
Der Buchhändler sah sie eine ganze Weile nur nachdenklich an. „Aber ja“, erwiderte er dann. „Meisterhaft. Voller Abenteuer und Weisheit. Doch im Augenblick lese ich es selbst.“ Er wog das Buch, das Mira ihm zurückgegeben hatte, in den Händen. „Du entschuldigst mich“, bat er und verschwand mit einem letzten Blick zu seinem Sessel im Hinterzimmer, um das wiedergebrachte Exemplar in eine seiner endlosen Listen einzutragen.
Mira blieb allein in der Stille und Wärme der Buchhandlung zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass doch etwas anders war als sonst: Kein Wachposten sah ihr beim Stöbern in den hohen Regalen über die Schulter. Sie war so an den Anblick eines uniformierten Beobachters gewöhnt, dass es sich beinahe falsch anfühlte, so alleine in der Buchhandlung zu sein.
Die Luft roch nach Edmund Porters süßem Tabak, Druckerschwärze und altem Papier. Mira sog den vertrauten Duft tief in ihre Lungen und trat langsam an eines der zahlreichen Regale, die mit Büchern aus allen Epochen gefüllt waren. Am meisten lockten Mira die alten, ledergebundenen, denen man ihr Alter von weit her ansah. Es war seltsam: Jede Zeit hatte ihre Bücher anders gekleidet. Von Leineneinbänden mit goldener Prägung bis zu grellbunten Hüllen aus bedrucktem Papier. Mira fragte sich, wie die Bücher heute wohl aussähen, wenn es noch Verlagshäuser gäbe, die sie drucken würden. Aber das war ja absurd.
Nachdenklich ging sie am Schreibtisch und dem großen Ohrensessel vorbei, und ihr Blick streifte das dort aufgeschlagen liegende Buch. Es war klein und ledergebunden, mit goldenen Seitenrändern und abblätterndem Titel. Es sah gar nicht so aus, als berge es Abenteuer und Weisheit, doch wie es da so aufgeschlagen lag, zog es Mira wie magisch an. Sie war neugierig, aus welcher fernen Welt sie Edmund Porter mit ihrem Eintreten gerissen hatte. Er hatte ganz den Eindruck gemacht, als lasse er sie nur ungern zurück.
Sie blieb stehen und strich behutsam über den Einband. Er war rau und arg mitgenommen und die Seiten dazwischen zerfleddert. Edmund Porter pflegte seine Schätze sehr sorgfältig; alle anderen Bücher in „Porters Höhle“ waren in makellosem Zustand. Ganz sicher hatte Mira dieses Buch noch nie in einem der Regale stehen sehen, die sie beinahe in- und auswendig kannte. Warum mochte er es versteckt gehalten haben?
Hitze kroch über Miras Haut. Sie riss den Blick von dem Buch los und sah sich nach der Tür zum Hinterzimmer um. Von Edmund Porter keine Spur.
Was Mira dann tat, hatte sie sich nicht vorher überlegt. Es war nicht so, als hätte sie beschlossen, das Buch zu stehlen. Aber eine plötzliche Unruhe drängte ihre Hände dazu, es aufzuheben und unter ihre Jacke zu schieben. Sie stahl es ja auch nicht wirklich. Genau wie jedes andere Buch würde sie es nach dem Lesen zu seinem rechtmäßigen Besitzer – nein, Verwalter – zurückbringen.
Schon wenige Minuten später, als sie keuchend und nach Atem ringend zu Hause in den Flur schlüpfte und sich gegen die Haustür lehnte, hätte sie nicht mehr erklären können, was sie dazu gebracht hatte, das Buch mitzunehmen. Ihr Herz galoppierte wie ein durchgegangenes Pferd in ihrer Brust. Sie hatte nicht die Gelegenheit, ihren Puls oder Atem unter Kontrolle, geschweige denn ihr Diebesgut in Sicherheit zu bringen, denn vom Geräusch der zuschlagenden Tür aufgeschreckt, stürmte ihr Vater in den Flur.
„Bei der Verfassung!“, entfuhr es ihm, als er in Miras erhitztes Gesicht sah. „Es ist schon drei nach neun, und da besitzt du die Nerven, noch draußen herumzuschleichen! Wo um alles in der Welt warst du?“ Sein Gesicht war vor Zorn genauso rot wie das seiner Tochter geworden, die immer noch nach Atem rang und nicht antworten konnte.
„Wieder in dieser Buchhandlung?“, setzte ihr Vater die Befragung fort. Er hatte sich bei Miras Eintreten die schwarze Anzugjacke mit den Orden über den Schlafanzug geworfen, als hätte er sich schon halb für den Fall gewappnet, dass seine Tochter von einem Wachmann zu ihm gebracht wurde.
Mira war sich fast sicher, dass man sie nicht einfach verhaften würde, sollte man sie in der Sperrstunde draußen aufgreifen. Wenn die Wachmänner Mira erst einmal anhand des Ausweisbandes an ihrem Handgelenk als Gerald Robins‘ Tochter identifiziert hätten, würden sie ihn vermutlich fragen, wie in ihrem Fall vorzugehen war. Immerhin war er ihr Vorgesetzter. Die Frage war, ob das nicht schlimmer gewesen wäre, als ohne großes Federlesen ins Gefängnis geworfen zu werden.
„Hat jemand sie gesehen?“ Miras Mutter war aus dem Wohnzimmer und zu ihrem Mann getreten. „Ein Wachposten oder … einer der Nachbarn?“
Das sah ihnen ähnlich. Lieber wüssten sie ihre Tochter in Schwierigkeiten, ja sogar lieber unter Arrest als in Verruf. Der Meinung der Nachbarn galt die oberste Sorge in diesem Haus. Jedenfalls gleich nach dem Befolgen des Gesetzes. Und das eine war durchaus eng mit dem anderen verknüpft, denn wenn sie einen Ruf bei ihren Nachbarn zu verlieren hatten, dann den, durch und durch rechtschaffene, pflichtbewusste und gesetzestreue Bürger zu sein.
„Ruhig, Rose“, wehrte Miras Vater ab. „Wenn ein Wachposten sie gesehen hätte, stünde sie nicht hier.“
Durch den Körper von Miras Mutter ging ein erleichtertes Schaudern. „Gut. Das ist gut“, sagte sie, wie um sich selbst zu beruhigen. „Es ist ja auch erst drei nach neun.“ Hastig klappte sie den Mund zu und machte den Eindruck, als hätte sie ihre Worte gerne augenblicklich zurückgenommen.
Die Reaktion ihres Mannes folgte postwendend. „Erst drei nach neun?“, brüllte er. „Drei Minuten. Drei Minuten Gesetzlosigkeit. Drei Minuten Gelegenheit für jedermann, sie da draußen zu sehen. In der Sperrstunde!“
„Nur für jedermann, der selbst um diese Zeit noch nicht dort ist, wo er sein sollte“, wagte Mira zu entgegnen, als sie endlich wieder genug Luft bekam, um zu sprechen.
Ihr Vater bedachte sie mit einem Blick, den er sich sonst vermutlich für die Verbrecher aufhob, mit denen er beruflich zuhauf zu tun hatte. „Junges Fräulein.“ Er tippte an einen seiner Orden – das silberne Abzeichen des Gerichts, das ihn als Justizstaatsbeamten auszeichnete. „Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt. Ich bin ein Hüter des Gesetzes. Und ich prophezeie dir, dass es mit dir noch ein böses Ende nehmen wird, wenn du weiterhin diese gedankenlose Einstellung an den Tag legst.“
Mira wagte nicht mehr, zu widersprechen. Immer noch in ihre Jacke eingepackt, stand sie vor ihren Eltern, und eine unnatürliche Wärme kroch durch ihren Körper. Ging die Hitze von ihrem Diebesgut aus, oder war es die Angst, damit ertappt zu werden? Ihr Vater, der wegen eines dreiminütigen Verstoßes gegen die Ausgangssperre so außer sich war … sie mochte sich nicht ausmalen, was er zu dem gestohlenen Buch sagen würde.
„Du gefährdest meinen Ruf“, fuhr er hitzig fort, „und das ist der Ruf dieser Familie und damit dieses Staates. Du gehst jetzt auf dein Zimmer, ehe ich mich vergesse! Und ab sofort zollst du dem Staat, der dich erhält und dich mit Regelungen wie der Sperrstunde zu schützen versucht, ein bisschen mehr Respekt.“
Noch während Mira seinem Befehl folgte und sich nach oben in ihr Zimmer zurückzog, hörte sie ihn im Erdgeschoss wüten. Mira war es nur recht, dass er sie weggeschickt hatte. Unter ihrer Jacke war ihr mittlerweile unerträglich warm geworden, aber mit einem darunter versteckten Buch, das seine Verbotenheit geradezu herausschrie, hatte sie es nicht gewagt, sie abzunehmen.