Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
eine Ausrede zurechtzulegen, warum sie nicht mit Vera in die Innenstadt zurückging. Ihr Gespräch mit dem Landwirt hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte. Mittlerweile war es halb sechs, und die Sonne stand tief. Draußen auf den Feldern hatten sie zusehen können, wie sie sich dem Flickenteppich aus verschiedenfarbigen Flächen genähert hatte.
„Warum hilfst du mir denn nicht?“ Mira, die sich immer noch mit der Tür abmühte, sah sich ärgerlich nach Vera um. Doch die war nicht wie vermutet direkt neben ihr. Ein paar Meter hinter Mira war sie stehen geblieben und starrte auf den Schreibtisch in der Scheunenecke, der so furchtbar deplatziert aussah. Othmars kleines Notizbuch lag zuoberst.
„Oh nein, denk nicht mal daran!“, flüsterte Mira. Ärger konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. In einer halben Stunde musste sie am Westturm sein, um mehr über das verbotene Buch herauszufinden. Vera durfte diesen Plan unter keinen Umständen durchkreuzen.
„Was soll aus Ari und seinen Geschwistern werden, wenn sein Vater nicht einmal den Lohn für seine harte Arbeit nach Hause bringt?“, fragte Vera. „Das alles ist eine schreiende Ungerechtigkeit! Wenn ein Kind so hungrig ist, dass es Brot stiehlt –“
„Was sollen wir denn machen?“
Vera schluckte hörbar und starrte wie gebannt auf den Schreibtisch. „Er hat gesagt, ohne sein Notizbuch kann er sich nichts merken.“
„Wir können es aber doch nicht einfach stehlen!“, sträubte sich Mira. „Ich weigere mich, sein Buch zu –“ Sie verstummte. Immerhin wäre das Notizbuch des Landwirts nicht ihr erstes gestohlenes Buch. Und Vera wusste das genau.
„Na schön!“ Sie ging an ihrer Freundin vorbei. Selbst würde diese ja doch nicht den Mut haben, sich dem Schreibtisch auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu nähern. Sie keuchte bereits entsetzt auf, als Mira nach dem Büchlein griff und es aufklappte. Das Leder unter ihren Fingern fühlte sich samtig und teuer an. Wie alles an Othmar und seiner Frau passte es nicht in die karge Umgebung der Armenviertel.
Othmar schien sich tatsächlich einfach alles zu notieren: die Zeit des Abendessens, die Mengen an Saatgut und Insektiziden, die wann von wo geliefert wurden, und solche Dinge wie: „Rasieren und Haare kürzen.“
Auf der letzten Seite standen lediglich ein Termin mit einem anderen Landwirt und die Erinnerung, Aris Vater für die kommende Woche den Lohn zu streichen. Ohne länger zu zögern, packte Mira das dicke Papier und riss es mit einem lauten Ratschen aus dem Büchlein.
„So“, sagte sie zufrieden zu Vera und legte das kleine Buch wieder auf den Schreibtisch. Aber Vera schüttelte nur den Kopf und legte den Finger an die Lippen.
Wie erstarrt stand Mira auf dem weichen Teppich, der unter dem Schreibtisch verlegt war. Jetzt hörte sie es auch: die sich nähernden Schritte von der jenseitigen Hallenhälfte.
Wie auf ein unsichtbares Zeichen rannten sie beide los. Zu zweit und in Panik ließ sich das Tor beinahe mühelos aufschieben, und schon Sekunden später stürmten sie die Straße hinab.
„Du bist mir etwas schuldig“, keuchte Mira, als sie zwei Gassen weiter zum Stehen kamen und sich vorlehnten, um nach Luft zu schnappen. Sie hatte die Hände auf die Knie gestützt und sog die kühl gewordene Abendluft in ihre Lungen, bis ihr Atem wieder langsamer ging. Nur ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. „Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um etwas zu tun, das dir am Herzen liegt.“ Sie sah Vera an, der die Ponyfransen an der Stirn klebten. In ihrem Blick lag etwas Ahnungsvolles, gemischt mit ein bisschen Furcht. „Jetzt“, sagte Mira jedoch ruhig, als hätte sie davon nichts bemerkt, „bist du an der Reihe.“
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