Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
wenig tun wie Filip das Bügeln dieser Anzüge.“
„Das ist doch etwas ganz anderes“, wehrte Mira ab, doch Vera schüttelte den Kopf. „Ich weiß, du tust es nicht nur für eine Beförderung oder eine gute Note. Sondern für mich. Und dafür bin dir sehr dankbar, Mira.“
Mira wusste, dass Veras Worte dazu dienen sollten, ihr schlechtes Gewissen wegen des scharfen Kommentars zu beruhigen. Dass sie Miras damit nur noch schürte, konnte Vera ja nicht ahnen.
Ihre Eltern waren nicht begeistert davon, dass Mira mit Vera hinaus auf die Felder gehen wollte. „Was denkt sich dieser Professor nur dabei, zwei Schülerinnen quer durch die Armenviertel zu schicken!“ Aber weil es sich um Staatswirtschaft handelte und das fast genauso wichtig war wie Staatsgeschichte, ließen sie Mira gehen. Ihre Mutter wies Iliona sogar an, ein paar belegte Brote und eine Packung Ersatzschokoladenkekse für Mira einzupacken. Falls es später werden sollte. Mira hatte mehrfach betont, dass sie zum Abendessen bestimmt nicht zurück sein würde.
„Die Landwirtschaft ist in der Tat eine spannende Angelegenheit“, lenkte ihr Vater ein, während ihre Mutter protestierte. „Ein Einblick in unser aufblühendes Versorgungssystem ist mit Sicherheit wichtiger als das Abendessen.“
Vera hatte zu Hause erst gar nichts von dem Referat erzählt. Ihre Mutter, so argumentierte sie, würde sich nur aufregen, und ihr Vater interessierte sich nicht dafür, mit welchen Lehrern Vera aus welchen Gründen aneinandergeriet.
Filip freilich wäre außer sich gewesen. Aber der schob mal wieder Überstunden im Staatsdienst.
So war Veras und Miras Aufbruch in Richtung Stadtrand doch recht unspektakulär. Mira tat ihr Bestes, ihre Nervosität zu verbergen. Immerhin hatte Vera keine Ahnung, warum sie wirklich so erpicht darauf gewesen war, sie zu ihrem Treffen mit dem Landwirt zu begleiten.
„Ich würde sagen, du stellst die Fragen und ich mache Notizen“, erklärte Mira fachmännisch. „Dann kann ich die Informationen gleich in Formulierungen bringen, die Winkelbauer entgegenkommen.“
„Und ich kann mich mit meinen dummen Fragen blamieren.“ Vera – ohnehin schon deutlich kleiner als Mira – sank sichtlich in sich zusammen. Mira musste wirklich geschickte Formulierungen finden, um Winkelbauer daran zu hindern, ihre Freundin vor versammelter Klasse vorzuführen.
„Winkelbauer hört am liebsten seine eigene Meinung“, erklärte Mira aufmunternd. „Wenn du ihn dann noch Glauben machst, du wärst selbst drauf gekommen, hast du schon fast gewonnen.“
Vera erwiderte nichts. Mit hängenden Schultern trottete sie vor sich hin, und Mira folgte ihr, während sie versuchte, sich eine gute Ausrede zu überlegen, sich in den Armenvierteln von Vera zu trennen. Nach dem Vortrag natürlich. Auch wenn sie aus eigennützigen Gründen mitgekommen war, wollte sie ihre Freundin nicht im Stich lassen.
Sie durchquerten das Zentrum von Leonardsburg, passierten „Porters Höhle“ und die Staatsgebäude: Schule, Rathaus und Gericht. Mira war schon viele Dutzend Male hier gewesen, und auch die Siedlung dahinter war ihr vage bekannt. Aber dann folgte sie Vera durch einen Torbogen in eine gepflasterte Gasse, und sofort war ihr klar, dass sie den Stadtkern hinter sich gelassen hatten.
Die Hausfassaden waren heruntergekommener, die Straßen schmaler, und ein Wachposten stand wie eine Statue auf der anderen Seite des Tores.
Augenblicklich versperrte er ihnen den Weg. „Ihr habt euch wohl verlaufen. Zwei junge Mädchen wie ihr!“ Er musterte sie von oben bis unten. „Ihr habt hier draußen nichts verloren.“
Obwohl sie einen guten Grund für ihren Spaziergang hatten, schlug Mira das Herz bis zum Hals, und die ihr von klein auf eingeimpfte Angst vor den städtischen Wachposten machte es ihr beinahe unmöglich, dem Mann in die Augen zu sehen. Auch Vera, der sie stattdessen einen Hilfe suchenden Blick zuwarf, starrte auf ihre Füße und machte nicht den Eindruck, als habe sie vor, zu antworten.
„Wir haben einen Termin.“ Mira reckte den Hals und zwang sich, dem Wachmann ins Gesicht zu sehen. Er konnte kaum älter als Filip sein, und das beruhigte Miras rasenden Herzschlag ein wenig. Vielleicht hatte auch dieser Mann Geschwister in ihrem Alter, und da war es doch natürlich, dass er sich um zwei Mädchen sorgte, die den sicheren Stadtkern verließen. Filip hätte Vera jedenfalls bestimmt nicht gerne hier draußen gewusst.
„Was für ein Termin soll das sein?“, fragte der Wachmann schroff, und Mira musste sich nun ernstlich bemühen, sein offensichtliches Misstrauen noch als Fürsorge zu entschuldigen.
„Herr Professor Winkelbauer“ – sie betonte den Namen mit Nachdruck – „schickt uns aus Recherchegründen zu einem Landwirt auf die Felder.“
Sie konnte sehen, wie der Wachmann beim Namen des Professors die Schultern noch ein wenig fester anspannte. Wahrscheinlich hatte er vor gar nicht allzu langer Zeit selbst bei Winkelbauer im Unterricht gesessen und wusste, dass man besser tat, was er einem auftrug.
„Viel zu gefährlich“, konstatierte er jedoch nach kurzem Ringen mit sich selbst. „Die Felder liegen jenseits der Armenviertel.“ Zwischen seinen buschigen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, und er wollte nicht aufhören, sie zu mustern. „Ohne eine erwachsene Begleitperson kann ich euch unmöglich passieren lassen.“
Miras Herz drohte ihr in die Hose zu rutschen. Aber nur für einen Moment. Dann straffte auch sie die Schultern und sagte langsam, als denke sie ernsthaft darüber nach: „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Herrn Professor Winkelbauer zu bitten, uns zu begleiten.“
Veras Augen weiteten sich vor Entsetzen. Aus Angst, sie könne ausgerechnet jetzt ihre Sprache wiederfinden, legte Mira noch nach: „Oh, Vera, das wird ihm aber gar nicht gefallen, wenn wir ihn damit belästigen.“
Nun endlich flackerte Verstehen in Veras Augen auf, und mit etwas zittriger Stimme fiel sie in das Spiel ein: „Wo er doch immer so viel zu tun hat.“
Der junge Wachmann schien nun ernsthaft in der Zwickmühle zu stecken. Seine linke Augenbraue zuckte, während er von Mira zu Vera und wieder zurücksah. Offenbar hatte Winkelbauer selbst bei einem Schüler, dessen Noten gut genug gewesen waren, um in den Staatsdienst zu treten, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Ich könnte euch wohl ein Stückchen begleiten. Um Herrn Professor Winkelbauer ein wenig Arbeit abzunehmen.“
Und so machten sie es. Der junge Wachmann begleitete sie energischen Schrittes die Straße hinab, während die Häuser zu beiden Seiten immer kleiner und immer schäbiger wurden.
„Ein Glück, dass dieses Staatswirtschaftsprojekt wirklich existiert!“, raunte Mira Vera zu. Sie gingen einige Schritte voraus. „Ich wäre vor Panik, aufzufliegen, gestorben, wenn ich einen Wachmann hätte anlügen müssen.“
Vera runzelte die Stirn, und Mira hätte sich auf die Zunge beißen können. „Wenn es das Referat nicht gäbe, hätten wir doch gar keinen Grund, hier herauszukommen.“
„Stimmt!“ Mira lachte leise auf, in einer Tonlage, die – wie sie hoffte – befreit und nicht hysterisch klang.
Je weiter sie sich von der Mauer, welche die Innenstadt säumte, entfernten, desto mehr Menschen tummelten sich in den schmalen Gassen. Je mehr Menschen, desto schäbiger sahen sie aus. Und je schäbiger sie aussahen, desto argwöhnischer betrachteten sie die beiden Mädchen in Begleitung eines blau uniformierten Wachpostens.
Zu Beginn bemühte Mira sich noch, den Blick gesenkt zu halten, doch schon bald sah sie sich ungeniert um und versuchte, jedes noch so kleine Detail der ungewohnten Umgebung in sich aufzusaugen.
Die Häuser standen dicht gedrängt; einen Garten hatte keines, dafür hingen schiefe Balkone an etlichen Stockwerken und von deren Geländern wiederum trockene Pflanzen. Vorhänge, die man hätte geschlossen lassen können, gab es hinter kaum einem Fenster. Frauen in gelblichen Schürzen fegten Vortreppen, ein bärtiger Mann bot lauthals Ware von einem klapperigen Wagen voller Krimskrams an. Ein Fahrradreifen war darunter, ein abgenutztes Schachbrett ohne Figuren und zahlreiche Töpfe und Pfannen mit Rostflecken.
„Günstige