Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer
gab sich an diesem Tag besonders grüblerisch und in sich gekehrt. Wie automatisch ging sie neben Mira her zum Ausgang des Staatsgebäudes, in dem der Unterricht stattfand. An der Tür hatte sich wie immer eine kleine Schlange gebildet. Ärmel wurden zurückgeschoben und Armbänder unter den Scanner gehalten. Kein staatliches Gebäude durfte von jemandem ohne das Bändchen mit dem neunstelligen Identifikationscode betreten oder verlassen werden.
„Du hättest es wirklich schlimmer treffen können“, erklärte Mira betont vergnügt, während Vera ihr seit dem nächtlichen Ausflug übel zerknicktes Bändchen unter dem Scanner hin und her drehte. „Ein Interview mit einem Fachmann … ich meine, das ist spannend, oder?“
Veras sarkastisches Schnauben stand dem von Professor Winkelbauer in nichts nach.
„Ich würde das alles ja zu gerne einmal sehen“, fuhr Mira fort. Hinter ihnen reckten ihre Mitschüler schon die Hälse, um zu sehen, wer den Strom nach draußen so lange aufhielt. Endlich gelang es Vera, das ramponierte Band mit der freien Hand zu glätten und die Drehtür zu passieren. Hastig streckte Mira ihren eigenen Arm unter die blaue Lichtschranke und folgte ihrer Freundin.
„Wir können gerne tauschen“, brummte Vera.
Der Himmel über der Stadt war verhangen, und der Geruch drohenden Regens lag in der Luft. Die Kälte des Winters war endgültig verflogen, aber noch gab es nur wenige Vorboten des nahenden Sommers. Die Blumen in den Vorgärten und in den Kübeln vor so manchem Fenster hatten heute ihre Kelche geschlossen, und Mira fröstelte in ihrer dünnen Bluse.
„Warst du schon mal draußen auf den Feldern?“, fragte sie im Plauderton, damit Vera ihr die Anspannung nicht anmerkte.
„Klar. Als Kinder haben Filip und ich uns manchmal hinausgeschlichen und da draußen gespielt.“ Widerwillig wandte Vera sich Mira zu. „Wir wussten nicht, dass es verboten ist, sich dort draußen herumzutreiben“, setzte sie nach, als müsse sie sich rechtfertigen. Dabei war kein Wort des Tadels oder der Missbilligung über Miras Lippen gekommen. Im Gegenteil: Sie staunte. Aber mit einem Staatsbeamten als Vater hätte sie wahrscheinlich entsetzt sein müssen, dass Veras Eltern ihren Kindern nicht verboten hatten, dort draußen herumzustreunen.
„Die Leute sind arm dort“, fuhr Vera fort. „Sie tragen zerlumpte Kleider und strecken das Mehl mit Laub oder Stroh, weil sie nicht genug davon haben. Staatliche Erziehungshäuser gibt es nicht, aber dafür jede Menge Kinder. Sie spielen den ganzen Tag auf der Straße.“
Mira hing an Veras Lippen. „Das wusste ich nicht“, gestand sie. „Ich dachte, alle Kinder wachsen in Erziehungshäusern auf. Wie machen die Eltern das dort?“
„Die Mütter arbeiten nicht. Sie kümmern sich um die kleinen Kinder, aber für die größeren hat keiner Zeit. Sie hängen auf der Straße herum und gründen Banden.“
Miras lebhafte Fantasie malte ihr sofort eine wilde Szene vor Augen, in der einige nachlässig gekleidete Jugendliche mit schmutziger Haut und zu langem Haar einen Kampf mit aus Scherben gebastelten Waffen austrugen. „Woher weißt du das alles?“, fragte sie und schob den erschütternden Gedanken beiseite.
„Wir hatten Freunde unter den Jüngeren. Sie haben mit uns auf den Feldern gespielt.“ Sie hatten das Haus der Petersens erreicht, und Vera schloss die Tür auf. „Leider hilft mir solches Wissen nicht im Unterricht. Winkelbauer macht nichts lieber, als mich vor der versammelten Klasse zu schikanieren. Und die anderen genießen es.“
„Daphné genießt es“, sagte Mira. „Und Daphné ist nicht ‚die anderen‘.“
„Daphné ist so etwas wie die Klassenkönigin. Mit einem Justizstaatsbeamten als Vater ist sie wie geboren für diese Rolle.“ Vera warf ihre Schuhe auf einen chaotischen Haufen aus Zeitungen, Schuhen und Mänteln unter dem Garderobenhaken.
Mira stellte ihre daneben. „Mein Vater ist auch ein Justizstaatsbeamter.“
Nun sah Vera auf. „Ich weiß“, sagte sie, aber ihre Miene strafte sie Lügen. Für einen Moment schien sie es tatsächlich vergessen zu haben. Ausgelöscht, dass ihre beste Freundin eine von denen war. Dass Mira prädestiniert dafür war, an Daphné Barons Seite die weniger Angesehenen zu drangsalieren. Dass Mira und Daphné ein Herz und eine Seele sein könnten. Ihre Väter hatten sich das vom ersten Schultag an gewünscht. Aber Mira hatte sich eine andere Freundin gewählt. Eine, die nicht so gut zum Ruf ihrer Familie passte, die aber viel ehrlicher und vertrauenswürdiger war, als Daphné Baron es je sein würde.
„Lass die kleine Baronesse doch spotten, so viel sie will.“ Mira zuckte die Achseln. „Und ihrem Vater soll sie doch über dich erzählen, was auch immer ihr einfällt. Er ist nicht mal Filips Vorgesetzter.“ Genau wie Miras Vater hatte Baron eine Einheit Wachleute unter sich, die ihm auf Gedeih und Verderb folgen mussten. Aber Filip gehörte zur Einheit von Gerald Robins.
„Außerdem werden Winkelbauer und Daphné gar nichts gegen dich in der Hand haben. Mit einem Fachmann als Quelle wirst du ihnen überhaupt keine Gelegenheit zu spotten geben.“
Vera warf ihre Tasche in eine Ecke und nahm zwei Gläser aus dem fast leeren Küchenschrank. Das meiste Geschirr türmte sich schon wieder schmutzig am Spülbeckenrand. „Als würde Winkelbauer nicht trotzdem etwas finden, was ihm an meinem Vortrag nicht passt.“
„Nicht mit mir als Ghostwriter. Ich könnte das Referat für dich schreiben.“
Vera blieb der Mund offen stehen. „Du willst Winkelbauer hintergehen?“
Mira zuckte die Schultern, als sei nichts weiter dabei. „Wenn ich dir damit helfen kann.“ Sie zögerte gerade lange genug, um den Nachsatz nicht übereilt wirken zu lassen: „Natürlich müsste ich mit auf die Felder kommen. Morgen Nachmittag, wenn du den Landwirt triffst.“
Sie beäugte Vera aus dem Augenwinkel und fragte sich, ob sie wohl Verdacht schöpfte. Aber Vera war nicht misstrauisch, und das verursachte Mira fast ein schlechtes Gewissen. Stattdessen fiel ihre Freundin ihr um den Hals: „Ich will sowieso auf keinen Fall allein dorthin!“
Miras Angebot hatte Veras Stimmung erheblich gebessert. Sie kochten sich Nudeln zu Mittag, die sie aus Mangel an weiteren Zutaten mit einer Prise wertvollem Zucker verspeisten, den Vera erst am Vortag gegen gleich drei Rationskarten eingetauscht hatte.
Anschließend klappten sie ihre Schulbücher auf und machten sich an die Staatsgeschichtshausaufgaben. Immerhin verlangte Frau Dr. Steinlein nur selten Essays von ihnen. Die eigene Meinung hatte, wie sie stets betonte, im Staatsgeschichtsunterricht nichts verloren. Hier drehe sich alles um Fakten, Fakten und nochmals Fakten.
Stattdessen ließ sie die Schüler zu Hause ellenlange Texte lesen und zusammenfassen oder gab ihnen Rechercheaufgaben. Der heutige Text erstreckte sich über vierundzwanzig Buchseiten und war nur gelegentlich durch Fotografien wichtiger Dokumente und Personen unterbrochen. Bei solcherlei Aufgaben war es Mira und nicht Vera, die heilfroh war, dass sie die Hausaufgabe meist zusammen erledigten. Vera machte es nichts aus, laut vorzulesen, und Mira hörte ihr zur Hälfte zu und ließ zur anderen Hälfte ihre Gedanken schweifen, weil das meiste dank der regelmäßigen Vorträge ihres Vaters ohnehin nicht neu für sie war.
„ … nach Nicholas Auttenbergs Krönung unklar, ob die in der Verfassung grundgelegte Erbmonarchie in Kraft treten kann, da der Verbleib seines einzigen Sohnes, Carl Auttenberg, weiterhin unbekannt ist. Um die Zukunft der Monarchie zu sichern –“
„Das ist doch nicht zu fassen!“ Mira hatte die Knie angewinkelt und die Fersen auf die Stuhlkante gestützt, während sie sich mit den Knien vom Tisch wegdrückte, sodass ihr Stuhl gefährlich auf den beiden Hinterbeinen wankte. Jetzt ließ sie ihn so heftig nach vorne fallen, dass Vera vor Schreck das Buch zuklappte.
„Was ist nicht zu fassen?“, fragte sie atemlos, während sie die Seite wiederzufinden versuchte. Wahrscheinlich hatte auch sie begonnen, mit ihren Gedanken ein wenig abzuschweifen, doch jetzt waren sie beide hellwach.
„Dass sie dieses Thema wieder einmal nur anreißen!“, erwiderte Mira hitzig. „Weißt du noch, als ich Frau Dr. Steinlein