Rassismus und kulturelle Identität. Stuart Hall

Rassismus und kulturelle Identität - Stuart  Hall


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weiterhin das Zentrum gegenüber einem ›Rest‹. Diese Beziehung wird nach Hall immer noch in Begriffen eines Diskurses gedacht, der von der Entdeckungsgeschichte vor allem der beiden Amerikas geprägt ist. Hall veranschaulicht dieses ›Wahrheitsregime‹ am Beispiel der dichotomisierenden Stereotype des edlen und des menschenfressenden Wilden und ihren Wirkungen in der Gesellschaftstheorie der Aufklärung bis zu Marx und Weber.

      Die Aufgabe, die sich diesen Bewegungen stellt, ist eine Konstruktion von Identität durch Differenz, die als Positionierung dem unabschließbaren Prozess der sprachlichen Sinnproduktion unterworfen ist, den Hall mit Derridas Kategorie der différance theoretisch zu fassen sucht. Dennoch kann an die Stelle der Identität kein endloses Spiel der Differenzen treten, weil soziale Akteure, um Selbstbewusstsein zu erlangen, handeln und Widerstand leisten zu können, sich in den Auseinandersetzungen positionieren müssen.

      In der Dezentrierung des spätmodernen Subjekts liegt für Hall, bei aller Gefahr von Seiten eines Kapitalismus à la Benetton, aber auch eine Chance politischer Veränderung. Diese Chance kann nur dann wahrgenommen werden, wenn die politischen und theoretischen Veränderungen begrifflich erfasst und gedacht werden, wenn es gelingt, auf die neue Situation angemessen zu reagieren. Sie besteht darin, die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit dessen, was die Moderne »Subjekt« nannte, und seine Positionierung in den Repräsentationsregimes als etwas Gewordenes und Veränderbares zu begreifen, ohne dass dadurch die Machtverhältnisse, die diese Positionierung bestimmen, in einer angenommenen Kontingenz der Sprachspiele unsichtbar werden.

      Hall verknüpft daher Derridas Gedanken der différance mit Gramscis Konzeption des Stellungskrieges (vgl. unten), den dieser – in Abgrenzung zu Lenins Oktoberrevolution – als Metapher für neue Möglichkeiten sozialistischer Politik in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gebrauchte: als Kampf um Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, als ein Ringen um die Hegemonie, durch die eine Vielfalt verschiedener sozialer Kräfte unter Wahrung ihrer Differenzen zu einem gemeinsamen Projekt zusammengeführt werden sollen. Die Bemühungen der organischen Intellektuellen, das widersprüchlich zusammengesetzte Alltagsbewusstsein kohärent zu machen, können mit Hall nicht als Versuche der Vereinheitlichung gefasst werden, sondern am ehesten als solche der Übersetzung.

      Unter den Kampffeldern einer neuen Politik des Lokalen ist auch in Britannien die Frage der Bürgerrechte wieder aktuell geworden (vgl. Hall 1989e, 173–188). Hier bietet sich die Möglichkeit, gegen einen extrem verengten Begriff englischer Identität, wie er im Thatcherismus deutlich wird, eine neue, Differenzen integrierende Politik sozialer Menschen- und Bürgerrechte in Gang zu setzen. Deren Basis könnten gerade hybride Identitäten bzw. eine gegen das Konzept des Staatsbürgers gerichtete und dadurch geradezu desidentifikatorisch wirkende Identität als Menschenrechtsträgerin werden,

      »indem sie aufgrund deren innerer Dynamik … (nicht nur) auf die noch nicht allgemein zugestandenen Menschen- und Bürgerrechte (etwa der sog. 2. und 3. Generation) verweist, sondern auch immer … auf die Frage, wer noch, wenn schon ich, als TrägerIn von Menschen- und Bürgerrechten zu ›erklären‹, anzuerkennen ist.« (Wolf 1994, 13)

      Diese Problematik verweist zurück auf das Problem der nationalen Identität, die traditionell als Gegenbegriff par excellence gegenüber jeder Vorstellung von Mischkultur gilt. Hall gelingt es (in Die Frage der kulturellen Identität), die Herausbildung nationaler kultureller Identitäten selbst als Hybridbildung zu fassen, in der heterogene ethnische, kulturelle, sprachliche, soziale und regionale Elemente zu einer widersprüchlichen Einheit gewaltsam zusammengefügt wurden; das Vergessen dieser gewaltsamen Ursprünge war die Voraussetzung für die Entstehung und Verbreitung eines ›Nationalbewusstseins‹ in breiten Teilen der Bevölkerung. Erst der Niedergang dieser Identitäten (und die Verbissenheit, mit der sie vom Thatcherismus beschworen und kriegerisch in Szene gesetzt werden, ist gerade ein Zeichen dieser – gefährlichen – Agonie) macht sichtbar, dass sie selbst, auch in ihrer höchsten Machtentfaltung (z. B. als das viktorianisch geprägte Englischsein der Jahrhundertwende) nichts anderes als Ethnizitäten darstellen.

      In seiner Wendung gegen einen ideologischen Begriff von nationalstaatlich gefasster kultureller Identität kann dieses Konzept eine geradezu subversive Kraft entfalten: es desartikuliert Fragen der Herkunft, der territorialen und gruppenbezogenen Bindungen von ihren herrschaftsförmigen Besetzungen. Ethnizität bleibt unverzichtbarer Teil auch einer neuen Politik der Repräsentation, da ohne sie eine Positionierung in und gegen herrschende Repräsentationsregimes nicht denkbar ist. Gerade in der Reklamation auch ihrer britischen Komponente durch Schwarze afrokaribischer oder asiatischer Abstammung zeigt sich, dass eine Identitätspolitik des Hybriden keinen Verlust politischer Handlungsfähigkeit bedeuten muss.

      Die Auswahl der Beiträge orientierte sich am Schwerpunktthema, das seit etwa zehn Jahren in den Arbeiten Halls immer mehr in den Vordergrund tritt. Der Band versteht sich als Ergänzung zum ersten von Nora Räthzel im Argument Verlag herausgegebenen Band (1989a), der einen Querschnitt über verschiedene Arbeitsschwerpunkte in dem außerordentlich reichhaltigen und vielseitigen Werk Stuart Halls gab.

      Der erste Teil: Umkämpfte Identitäten – neue Politiken der Repräsentation beginnt mit dem Vortrag Neue Ethnizitäten (1988e), der am Beispiel des neuen schwarzen britischen Films alle zentralen Aspekte des Themas der kulturellen Identität schon einmal umreißt. Ihm folgt ein Beitrag, den Hall auf einer Tagung der linken Filmzeitschrift Framework hielt (1989f, später unter dem Titel Kulturelle Identität und Diaspora nochmals in leicht gekürzter Fassung veröffentlicht [1990f]) und der – diesmal unter Bezugnahme auf den karibischen Film und die Arbeiten von Fotografen – das Thema der kulturellen Identität weiter entfaltet. Die beiden in einem Reader zu Kultur, Globalisierung und Weltsystem enthaltenen Vorträge Das Lokale und das Globale – Globalisierung und Ethnizität sowie Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten (Hall 1991a) geben ein übergreifendes Bild konkurrierender Modelle kultureller Identitäten, sowohl aus der Perspektive einer globalen kapitalistischen Massenkultur als auch vom Standpunkt der lokalen Gegenkräfte aus. Hier finden sich am englischen Beispiel erste Ausführungen zum Thema der nationalen kulturellen Identität.

      Der zweite Teil: Rassismus, westliche Dominanz und Globalisierung vertieft die zuletzt genannten Aspekte. Der in einem Reader der UNESCO veröffentlichte Aufsatz ›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante (1980g) zeigt – am Beispiel von Diskussionen über die ökonomischen, politischen und ideologischen Grundlagen des Apartheidregimes – Halls Interventionen in verschiedene Debatten marxistischer Theorie, auf die in den Kerntexten zur kulturellen Identität nicht mehr explizit Bezug genommen wird. Hier stehen Fragen der ökonomischen Struktur im Vordergrund. Dagegen analysiert The West and the Rest (1992c) – ein Einführungstext für den Reader Formations of Modernity, der einem Seminar der Open University zugrunde lag – Diskurse des Westens über die anderen Teile der Welt, ohne die weder das Phänomen des Rassismus noch die Zwänge einer schwarzen Identitätspolitik begriffen werden können. Der Band schließt mit einem ebenfalls für ein Seminar der Open University (Modernity and its Futures) konzipierten Text (Die Frage der kulturellen Identität, 1992g), in dem noch einmal, diesmal mit stärker historischen und theoriegeschichtlichen


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