Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein
Widersprüche in der Entwicklung der Produktivkräfte selbst, »Widersprüche des Fortschritts«. Andererseits wird die sogenannte Kritik des Ökonomismus häufig im Namen der Forderung nach einer Autonomie des Politischen und des Staates vorgetragen, sei es im Verhältnis zur Sphäre der Warenwirtschaft, sei es im Verhältnis zum Klassenkampf selbst, was praktisch darauf hinausläuft, den liberalen Dualismus wiedereinzuführen (bürgerliche Gesellschaft/Staat, Ökonomie/Politik), gegen den Marx vehement aufgetreten war. Das Erklärungsmodell Wallersteins, so wie ich es verstanden habe, erlaubte nun die Annahme, dass die Gesamtstruktur des Systems die einer generalisierten Ökonomie ist, und dass die Prozesse der Staatenbildung, die Politik der Hegemonie und die Klassenbündnisse, diese Ökonomie strukturieren. Die Frage, warum die kapitalistischen Gesellschaftsformationen die Form von Nationen annehmen, oder, besser gesagt, die Frage, was die Nationen, die sich um einen »starken« Staatsapparat herum gebildet haben, von den abhängigen Nationen unterscheidet, deren Einheit von innen und außen untergraben wird, und wie sich dieser Unterschied mit der Geschichte des Kapitalismus verändert, war nicht länger ein blinder Fleck, sondern erhielt entscheidende Bedeutung.
In der Tat setzten genau hier meine Fragen und Einwände ein. Ich werde kurz drei umreißen und überlasse dem Leser die Entscheidung, ob sie sich im Rahmen einer »traditionellen« Konzeption des historischen Materialismus bewegen oder nicht.
Erstens war ich nach wie vor davon überzeugt, dass sich die Hegemonie der herrschenden Klassen letztlich auf ihre Fähigkeit gründet, den Arbeitsprozess und darüber hinaus die Reproduktion der Arbeitskraft selbst zu organisieren, und zwar in einem umfassenden Sinn, der sowohl die Subsistenz der Arbeiter als auch ihre »kulturelle« Bildung einschließt. Um es anders auszudrücken, hier geht es um die reelle Subsumtion, die Marx im Kapital als Indiz für das Entstehen der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise genommen hat, d. h. als den Punkt, an dem der Prozess der endlosen Akkumulation und der »Verwertung des Werts« unumkehrbar geworden ist. Die Idee dieser »reellen« Subsumtion (die Marx der rein »formellen« Subsumtion entgegensetzt), geht, genau betrachtet, weit über die Idee einer Integration der Arbeiter in die Welt des Vertrags, des Geldeinkommens, des Rechts und der offiziellen Politik hinaus: sie impliziert eine Transformation der menschlichen Individualität, die sich von der Entwicklung der Arbeitskraft bis zur Konstituierung einer »herrschenden Ideologie« erstreckt, die so beschaffen ist, dass sie von den Beherrschten selbst angenommen wird. Wahrscheinlich hätte Wallerstein gegen eine solche Vorstellung nichts einzuwenden, hebt er doch sehr die Art und Weise hervor, in der alle sozialen Klassen, alle formellen Gruppen, die sich im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft bilden, den Auswirkungen der »Verallgemeinerung der Warenform« und des »Staaten-Systems« ausgesetzt sind. Man kann sich indessen fragen, ob es zur Beschreibung der daraus resultierenden Konflikte und Entwicklungen ausreicht, die historischen Akteure, ihre Interessen und ihre Bündnis- bzw. Konfrontationsstrategien zu schildern. Die Identität der Akteure selbst hängt von dem Prozess der Bildung und Aufrechterhaltung der Hegemonie ab. So hat sich die moderne Bourgeoisie gebildet, um eine Klasse werden zu können, die das Proletariat beherrscht, nachdem sie eine Klasse war, die die Bauernschaft beherrscht hatte: sie musste sich politische Fähigkeiten und ein »Selbstbewusstsein« aneignen, die die Formen der Widerstände selbst antizipierten und sich mit diesen selbst veränderten.
Der Universalismus der herrschenden Ideologie hat demnach tiefere Wurzeln als die internationale Expansion des Kapitals und die Notwendigkeit, allen »entscheidenden Agenten« dieser Expansion gemeinsame Handlungsregeln zu vermitteln2: sie wurzelt in der Notwendigkeit, trotz der bestehenden Antagonismen eine ideologische »Welt« zu konstruieren, die den Ausgebeuteten und den Ausbeutern gemeinsam ist. Der (demokratische oder nicht-demokratische) Egalitarismus der modernen Politik veranschaulicht diesen Prozess gut. Das heißt, dass sich jede Klassenherrschaft in der Sprache des Universellen artikulieren muss und dass es in der Geschichte vielfältige und unvereinbare Universalitäten gibt. Jede Ideologie – und das gilt auch für die heutzutage dominierenden – ist von den spezifischen Spannungen einer bestimmten Ausbeutungsform gekennzeichnet, und es ist keineswegs sicher, dass eine Hegemonie zugleich alle Herrschaftsverhältnisse umspannen kann, die im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft wirken. Um es deutlich zu sagen, bezweifle ich die Existenz einer »Welt-Bourgeoisie«. Oder um es genauer auszudrücken, ich sehe, dass die Ausdehnung des Akkumulationsprozesses im internationalen Maßstab die Bildung einer »internationalen Kapitalistenklasse« impliziert, deren unaufhörliche Konkurrenz ein Gesetz ist (und ich sehe auch die Notwendigkeit, zu dieser Kapitalistenklasse sowohl die führenden Leute des »freien Unternehmertums« als auch die Verwalter des »sozialistischen« Staatsprotektionismus zu zählen), aber ich glaube nicht, dass diese Kapitalistenklasse gleichzeitig eine Welt-Bourgeoisie im Sinn einer in den Institutionen organisierten Klasse ist, die Einzige, die historisch konkret ist.
Ich kann mir vorstellen, dass Wallerstein darauf sofort antworten würde: aber es gibt eine Institution, die der Welt-Bourgeoisie gemeinsam ist und die ihr unabhängig von ihren internen Konflikten (selbst wenn diese die gewaltsame Form von militärischen Konflikten annehmen) und vor allem unabhängig von den unterschiedlichen Bedingungen ihrer Hegemonie über die beherrschten Bevölkerungen tendenziell eine konkrete Existenz verleiht. Diese Institution ist das Staaten-System selbst, das sich besonders stark herausgebildet hat, seitdem sich die Form des Nationalstaats nach den Revolutionen und Konterrevolutionen, den Kolonialisierungen und Entkolonialisierungen auf die ganze Menschheit ausgedehnt hat. Ich selbst habe schon seit langem die Ansicht vertreten, dass jede Bourgeoisie eine »Staatsbourgeoisie« ist, und zwar selbst dort, wo der Kapitalismus nicht als geplanter Staatskapitalismus organisiert ist, und ich denke, dass wir in diesem Punkt übereinstimmen. Eine der treffendsten Fragen, die Wallerstein meines Erachtens aufgeworfen hat, ist diese: Warum konnte sich die Weltwirtschaft (trotz verschiedener Versuche vom sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert) nicht in ein politisch geeintes Welt-Imperium verwandeln, warum hat die politische Institution die Form eines »zwischenstaatlichen Systems« angenommen? Auf diese Frage kann nicht a priori geantwortet werden: es geht ja gerade darum, die Geschichte der Weltwirtschaft neu zu schreiben, insbesondere die der Interessenkonflikte, der »Monopole« und der ungleichen Entwicklung der Macht, die sich in ihrem »Zentrum« stets manifestiert haben – das sich heute übrigens immer weniger in einem einzigen geografischen Raum lokalisieren lässt –, aber auch die des ungleichen Widerstands ihrer »Peripherie«.
Aber genau diese Antwort (so sie denn gegeben würde) veranlasst mich, meinen Einwand zu noch einmal zu formulieren. Am Ende des ersten Bandes von The Modern World-System schlug Wallerstein ein Kriterium für die Identifizierung von relativ autonomen »sozialen Systemen« vor: das Kriterium der inneren Autonomie ihrer Entwicklung (oder ihrer Dynamik). Daraus zog er eine radikale Schlussfolgerung: die meisten historischen Einheiten, denen man allgemein das Etikett »soziale Systeme« anheftete (und die den Nationalstaaten »tributpflichtig« waren), sind in Wirklichkeit gar keine; sie sind nur abhängige Einheiten; die einzigen Systeme im richtigen Sinn, die es in der Geschichte gegeben hat, sind einerseits die sich selbst versorgenden Gemeinschaften, andererseits die »Welten« (die Welt-Imperien und die Weltwirtschaften). In die marxistische Terminologie übersetzt, würde diese These besagen, dass in der heutigen Welt die einzige wirkliche Gesellschaftsformation die Weltwirtschaft selbst ist, weil sie die größte Einheit ist, in der die historischen Prozesse interdependent werden. Mit anderen Worten, die Weltwirtschaft wäre nicht nur eine ökonomische Einheit und ein Staatensystem, sondern auch eine soziale Einheit. Folglich wäre die Dialektik ihrer Entwicklung selbst eine globale Dialektik, oder sie wäre zumindest durch den Primat der globalen Zwänge über die lokalen Kräfteverhältnisse gekennzeichnet.
Es steht außer Zweifel, dass diese Darstellung den Vorteil einer synthetischen Erfassung der Internationalisierungsphänomene der Politik und Ideologie hat, die wir seit mehreren Jahrzehnten beobachten und die uns als Endpunkt eines sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden kumulativen Prozesses erscheinen. Eine besonders eindrucksvolle Illustration findet sie in den Krisenperioden. Sie gibt uns – wie wir in diesem Band sehen werden – ein sehr wirksames Instrument an die Hand, um den in der modernen Welt allgegenwärtigen Nationalismus und Rassismus zu interpretieren, ohne diese Erscheinungen mit denen des »Fremdenhasses« oder der »Intoleranz« der Vergangenheit zu vermengen: den Einen (den Nationalismus) als