Stoner McTavish - Schatten. Sarah Dreher

Stoner McTavish - Schatten - Sarah Dreher


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den Tränen nahe. Verdammt, ich wollte, dass wir zusammen aufwachen, unbedingt wollte ich das.

      Die Tür wurde heftig aufgestoßen. »Guten Morgen«, sagte Gwen fröhlich. Sie warf ihren Mantel von sich und deponierte eine weiße Papiertüte auf dem Nachttisch. »Es ist ein wunderschöner Tag, überall sprießen die Märzknospen, Gott sitzt lächelnd in Ihrem Himmel, und du wirst die ›Seegurke‹ lieben.«

      »Ich dachte, du wärst abgereist.«

      Gwen sah sie an. »Warum sollte ich?«

      »Wo warst du?«

      »Unterwegs auf der Suche nach der besten Tasse Kaffee in ganz Castleton für dich. Angesichts der Möglichkeiten fiel die Auswahl nicht schwer.«

      Sie setzte sich, holte zwei Styroporbecher aus der Tüte und zog die Deckel ab. »Zucker? Süßstoff?«

      Stoner schüttelte den Kopf.

      »Genau den Verdacht hatte ich. Du bist total chemikalienfrei.«

      »Nicht ganz«, sagte Stoner und schlürfte ihren Kaffee. »Ich nehme Zucker, wenn ich nervös bin, und ich trinke Alkohol. Stürmst du morgens immer los wie ein Überfallkommando?«

      »Nur während des Schuljahres. Lehrerinnen gehen nun mal in Spurtstellung, sobald sie ein Auge offen haben.«

      »Eine der Hauptursachen für die hohe Jugendkriminalität in diesem Land«, maulte Stoner, »ist die ewige zwanghafte Fröhlichkeit der Lehrkräfte.«

      »Meckertante.« Gwen pikste sie liebevoll. »Los, steh auf. Es gilt, einen wundervollen Tag zu verbringen.«

      »Geh weg.« Sie zog sich die Decke über den Kopf. »Komm zu einer zumutbaren Uhrzeit wieder.«

      »Jetzt ist eine zumutbare Uhrzeit.«

      »Wie zumutbar?«

      »Fast neun.«

      Stoner tastete nach ihrer Armbanduhr. »Es ist erst zehn nach acht, Gwen.«

      Gwen riss ihr die Decke weg. »Steh auf. Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst.«

      »Es ist eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache«, sagte Stoner geduldig, »dass ein Drittel der Weltbevölkerung nicht imstande ist, vor zehn Uhr normale Funktionen zu aktivieren. Jeder dritte Mensch, der da draußen herumfährt, befindet sich im Halbschlaf. Die anderen zwei Drittel sind hyperenergetische Wahnsinnige.«

      Gwen zerrte ein T-Shirt aus Stoners Koffer und warf es nach ihr. »Du kannst doch Schattenhain nicht mit leerem Magen attackieren.«

      »Das Einzige, was ich gleich attackieren werde, bist du.«

      »Echt stark«, sagte Gwen. »Ich bin ganz weg, Mann. Können wir jetzt los?«

      »Das«, bemerkte Stoner, »war politisch gesehen eine Sauerei.« Sie schloss sich im Bad ein.

      Gwen hämmerte gegen die Tür. »Wenn du schon wieder duschst, bringe ich mich um!«

      ***

      Die Seegurke füllte das Erdgeschoss eines kleinen, verwitterten Hauses. Vor die großen Panoramafenster zur Straße raus waren grüne Tüllgardinen gezogen, um die Morgensonne etwas zu filtern. In der geräumigen Gaststube standen Tische irgendwie beliebig herum. Ein Tresen mit Barhockern, dahinter halb verdeckt die Küche. Auf einer Tafel waren die Tagesgerichte angekündigt – Hackbraten mit Kartoffelbrei und Erbsen, Hummerrouladen, Kabeljaukroketten und hausgemachte Hühnersuppe.

      Über der Spüle hing ein lüsterner Kalender, auf dem eine schwüle Brünette in tief ausgeschnittenem Badeanzug und nadelspitzen Pumps lasziv über die Schulter blinzelte und Ostergrüße von der Peloponnesischen Gesellschaft für Artesische Brunnen bestellte.

      »Ist sie nicht umwerfend?«, flüsterte Gwen.

      »Wenn du auf so was stehst.«

      »Doch nicht das Mannequin, du Dummchen. Sie!«

      Eine drahtige, dunkelhaarige Frau fortgeschrittenen Alters stand hinter dem Tresen und schenkte Kaffee ein.

      »Klar«, murmelte Stoner verschlafen. »Umwerfend.«

      Die Möblierung übertraf Tante Hermiones wildeste Phantasien. Chrom, wohin das Auge blickte. Tischkanten, Serviettenringe, Salzfässer, Zuckerdosen, der Kaffeeautomat, die Barhocker, die Stühle.

      »Der Laden gehört ihr«, verkündete Gwen.

      »Wie schön.«

      Postkarten von der alten, bräunlichen Art mit matten Oberflächen tapezierten die Wand hinter einer nichtcomputerisierten, nichtelektrischen, nichtdigitalen Kurbelkasse. Eine Glasvitrine beinhaltete Roi-Tan-Zigarren, Kartenspiele mit Radrennmotiven (Skat- und Rommeeblätter), Gewerkschaftsbeitrittsformulare und cellophanumhüllte Sechserpackungen Rootbeer. Neben der Eingangstür hing zwischen bunten ›Mach den Pepsi-Test‹- und ›Ich geh meilenweit für eine Camel‹-Postern eine Unmenge Polaroid-Sofortbilder. Auf mehreren hüpfte eine Hochzeitsgesellschaft mit einer weißen Papierglocke zwischen bunten Luftschlangen auf den Tischen des Lokals herum. Auf ein paar anderen war die Papierglocke rot, Girlanden aus Pappbuchstaben verkündeten ›Fröhliches neues Jahr‹ und breit grinsende Pärchen hielten Plastikgläser mit Sekt in die Höhe. Es gab auch eine Serie mit aufsehenerregenden Fängen, schlaffe Fische baumelten von Angelschnüren in den Händen untersetzter Männer in ölverschmierten Overalls. Dann ein offizieller Brief von der Freiwilligen Feuerwehr Castleton, der ›Dee und Dan‹ für die Versorgung mit Kaffee und Keksen anlässlich des Brandes in Tatros Scheune dankte. Die Fotokopie eines Schecks über 10 Dollar 82 Cent, unterschrieben von Präsidentschaftskandidat George McGovern. Und ein vergilbter Zeitungsausschnitt zeigte Erzbischof Medeiros, wie er die Fischereiflotte von Castleton segnete.

      »Du hast recht«, sagte Stoner. »Dieser Laden ist wirklich …« Eine Gestalt auf einem Schnappschuss fiel ihr ins Auge. Sie zupfte Gwen am Ärmel. »Sieh mal!«

      Gwen warf einen Blick auf das Bild. »Großer Gott«, ächzte sie. »Das ist der ekelhafteste Fisch, den ich je gesehen habe.«

      »Sieh genauer hin.«

      »Was ist mit den Augen los?«

      Zwei murmelartige Beulen quollen aus dem Kopf des Fisches. Sie lagen sehr weit vorne, und zwar beide in der Mitte der rechten Kopfseite.

      »Es ist eine Flunder«, erklärte Stoner. »Die Augen wandern. Gwen …«

      »Das tun sie allerdings! Warum um alles in der Welt verlangst du von mir, dass ich mir das ansehe?«

      »Nicht den Fisch.«

      »Es gibt Dinge, Stoner, die ich wirklich nicht haben muss, ich kann sehr gut ohne so etwas leben.«

      »Im Hintergrund, am Tresen, vor der Tageskarte.« Sie wartete. »Na?«

      »Was ›na‹?«

      »Erkennst du die Frau nicht?«

      »Sollte ich?«

      »Es ist Claire Rasmussen.«

      Gwen drehte sich zu ihr um. »Wie soll ich eine Frau erkennen, die ich noch nie gesehen habe?«

      »Na, ihr Bild. Das, das mir Nancy gegeben hat.«

      »Du hast es mir nicht gezeigt.«

      Stoner zerrte es aus der Tasche und reichte es ihr.

      »Jawoll«, sagte Gwen, »das ist in der Tat die fragliche Person.«

      »Ist dir klar, was das bedeutet?«

      »Es bedeutet, dass Claire manchmal auswärts isst.« Sie schüttelte sich. »Und zwar in ziemlich fragwürdiger Gesellschaft.«

      »Es bedeutet, dass sie hier vielleicht bekannt ist.« Sie ging zu einem freien Tisch hinüber.

      Gwen folgte ihr. »Prima. Lass uns was essen.«

      Stoner setzte sich hin und beugte sich vor. »Also, als Erstes müssen wir eine Strategie


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