Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
das sich in den großen Volksparteien sammelte, keine nennenswerte Utopie entwickelt, die über den US-amerikanischen Traum und das Urvertrauen in dessen demokratische Garantien hinausginge.«
17 Als »Informationsrente« begreift Roberto Verzola »eine spezifische Form der Mehrwertaneignung, begründet mit sog. intellektuellen Eigentumsrechten. Mikroelektronik und Digitalisierung haben die Bedeutung der Informationsrente explosiv gesteigert.« (Ralf Krämer, »Informationsrente«, HKWM 6/II, 1100)
Schirrmacher registrierte den »Entzug dieses Fluchtpunkts« als momentanen politischen Nihilismus. »Bush multipliziert uns mit null.« Als Linker hatte man die analoge Erfahrung gemacht, vom moralischen Ruin des Sozialismus politisch mit null multipliziert worden zu sein. Doch die Kapitalismuskritik und die Perspektive solidarischer Vergesellschaftung waren dadurch nicht ausgelöscht, während hier die Perspektive ausgelöscht schien. Es waren vor allem Reflexionen John Bergers aus Le Monde diplomatique vom Februar 2003 über den von der Regierung Bush praktizierten Machttypus, denen Schirrmacher sich unterm Eindruck der Krise nicht mehr verschließen mochte: »Jenseits der Ideologie«, hatte Berger über die USA geurteilt, »basiert ihre Macht auf zwei Drohungen. Die erste ist die Intervention aus dem Himmel durch den am stärksten bewaffneten Staat der Erde. Man kann es [nach dem Kürzel für den Langstreckenbomber der US-Luftwaffe] die Drohung B 52 nennen. Die zweite ist rücksichtslose Verschuldung, Bereitschaft zum Bankrott und, angesichts der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt, dadurch ausgelöste Verarmung und Hunger. Man kann diese Drohung ›Drohung null‹ nennen.« Im Krisenherbst des Jahres 2008 sah nun Schirrmacher »die Phase der Null […] im Begriff, zu einem historischen Ereignis zu werden«. Was den bürgerlichen Liberalen bleibe und sich mit der staatssozialistischen Hypothek vergleichen lasse, sei »die beschämende Erfahrung der tiefen Untreue gegen uns selbst, das überwältigende Erlebnis der Ohnmacht«. In John Bergers Worten: »In den sich ständig wiederholenden Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen und Drohungen sind die immer wiederkehrenden Begriffe Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus. Jedes dieser Worte bedeutet in seinem Kontext exakt das Gegenteil, was es einst bedeutete. Jedes ist […] ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist.«
3. Wiederkehr des Interventionsstaats
Der drohende Zusammenbruch schien quasi über Nacht zu bewirken, was keiner noch so scharfsinnigen Kritik gelungen war: einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Finanzkapital, ja schließlich von Staat und Wirtschaft schlechthin. Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen sah man »das ideologische Pendel […] in atemberaubendem Tempo in Richtung eines Neoetatismus« schwingen (Plickert 2008). Staatsinterventionismus war über Nacht vom Schimpfwort zur rettenden Losung geworden. Die Politik, glaubte man, würde ihren Vorrang im Verhältnis zum Kapital zurückgewinnen. Nun wurde vielstimmig von der Reparatur, ja »Neugründung« (Sarkozy) des Kapitalismus geredet. Diese Rhetorik übersah, dass Kapitalismus, anders als jeder denkbare Sozialismus, keine Gründung, sondern »Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs« (v.Hayek 1967) ist. Das mögliche neue kapitalistische Akkumulationsregime konnte nur eine »historische Fundsache« sein, um es in der Sprache der Regulationsschule zu sagen. So ›fand‹ die deutsche Bundeskanzlerin, die noch am Vorabend der akuten Phase der Finanzkrise die strengere Regulierung des Finanzsektors abgelehnt hatte, gleichsam über Nacht wie die anderen Regierungen der Welt, dass die globalisierten Ströme und Kreditverschachtelungen des Finanzkapitals kontrolliert werden müssten. Die Akteure der Weltpolitik ›fanden‹ ferner, dass sie dazu eine globale Behörde brauchten. Vor der Öffentlichkeit mussten Präsident Bush und die Banker als Sündenböcke herhalten, um den Kapitalismus zu exkulpieren. Sie hatten es verbockt. Bush stand für Inkompetenz, die Banker für (allgemeinmenschliche) Gier. Bush wurde auf dem ersten Höhepunkt der Finanzkrise abgewählt, und die Banker? Sie sollten Geld vom Staat nehmen und dafür ihr Einkommen auf eine halbe Million Euro pro Jahr beschränken lassen. Selbst der Chef der Deutschen Bank drängte darauf, reguliert zu werden, und bekannte, »vom Saulus zum Paulus geworden« zu sein. Auf die neoliberale Globalisierung mit ihrer trinitarischen Formel Deregulierung18, Privatisierung, Marktfreiheit folgte tatsächlich nun zunächst die Verstaatlichung (der Verluste). Angekündigt wurde ein gewisses Regime globaler Regulierung. Das Tabu der Staatsverschuldung war gebrochen, Konjunkturprogramme rückten weltweit auf die Tagesordnung.
18 Die Rede von der »Deregulierung« ist allerdings irreführend, wie Leo Panitch (2011) gezeigt hat. Die wirkliche Frage lautet: welche Regulierung. Die USA haben das »regulierteste Finanzsystem« der Welt. »But that system is organized in such a way as to facilitate the financialization of capitalism, not only in the U.S. itself, but in fact around the world.« Ohne das wäre die Globalisierung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten nach Panitchs Ansicht nicht möglich gewesen.
Wenn der bis gestern verdrängte Keynes plötzlich wieder aktuell war, wenngleich zunächst »ganz überwiegend ohne Erwähnung […] des Namens« (Zinn 2008a, 24), so hallte dieser Name nun wieder in den Kommentaren der »Wirtschafts-Intellektuellen, einer neuen Branche, die sich im Augenblick hoher Nachfrage« erfreute (Schirrmacher 2008b). »Wir sind jetzt alle Keynesianer«, gab Josef Stiglitz, der sich als einer der in dieser Linie Denkenden »über drei Jahrzehnte lang […] beinahe gemieden« gefühlt hatte, Ende 2008 ironisch zu Protokoll. »Selbst der rechte Flügel in den Vereinigten Staaten hat sich dem keynesianischen Lager mit ungezügelter Begeisterung angeschlossen.« (Ebd.) Und Sahra Wagenknecht bestätigte: »Der Ruf nach Deregulierung, Privatisierung und Marktorientierung, das Mantra des Neoliberalismus, wirkt plötzlich so altbacken und unzeitgemäß wie in den 90er Jahren die Forderung nach Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche, die damals nur wenige Linke noch vorzutragen wagten.« (2008, 7)
Horrende Summen, den Banken von den Regierungen zur Verfügung gestellt, ermöglichten vor allem im US-Bankenwesen den Konzentrationsprozess und verhinderten weitere Zusammenbrüche. Dennoch verharrten in den westlichen Metropolen das Kreditwesen und damit der ökonomische Prozess insgesamt wie gelähmt. »Die Konsumenten konsumieren nicht, die Arbeitgeber stellen keinen ein, die Anleger legen nichts an, und die Banken geben keine Darlehen«, beschrieb Ende 2008 der Chef der spanischen Nationalbank, Miguel Ángel Fernández Ordoñez, die Situation nicht nur seines Landes. »Es herrscht eine fast totale Lähmung, der sich niemand entziehen kann.« An allen Ecken und Enden sprachen die Frühindikatoren dieselbe Sprache. Der Seetransport-Index (»Baltic Dry Index«) war seit Mai 2008 um 95 Prozent zurückgegangen (Crespo 2008), das heißt, die Frachtpreise waren ins Bodenlose gefallen.19 Dabei gilt dieser Kurs im Gegensatz zu dem von Wertpapieren und Rohstoffen als unbeeinflusst durch Spekulation. Der Welthandel war tatsächlich dramatisch eingebrochen. Das lag nicht primär an schrumpfender Nachfrage, sondern am Ausbleiben von Krediten für den Außenhandel. Die Waren zirkulieren ja erst, wenn sie bezahlt sind; doch der Erlös kann erst kommen, wenn sie am Zirkulationsziel sind. Der Seetransport braucht aber Zeit. Und der Empfänger braucht weitere Zeit, bis Geld aus der Verwertung der betreffenden Güter an ihn zurückfließt. Die Überbrückung leistet der Kredit. Da dieser nun stockte, stockte bei Industrieausrüstungen, Rohstoffen und Halbfertigfabrikaten nicht nur der Handel, sondern auch die Produktion, und sie stockte an beiden Enden der Transaktionskette, dem der Lieferanten wie dem der Belieferten. Am Weltmarktpreis der Basisressource des globalen kapitalistischen Zivilisationsparadigmas, des Rohöls, ließ sich die Wirkung ablesen. Seit dem Sommer 2008 war er binnen eines knappen halben Jahres um rund 75 Prozent abgesackt. Nun ging das Gespenst der Deflation um – die Ökonomen befürchteten den Übergang von der »Rezession« zur »Depression«. Die Zentralbanken antworteten mit einer Politik des billigen Geldes. Auch der Zinsfuß des Geldes, das sie den Geschäftsbanken zur Verfügung stellten, war quasi »mit null multipliziert«. Aber hatte nicht gerade billiges Geld im Vorfeld das Krisenpotenzial weiter aufgepumpt?
19 Allerdings von einem aufgrund des Ölpreises vom Frühjahr/Sommer