Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug

Hightech-Kapitalismus in der großen Krise - Wolfgang Fritz Haug


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erweckte bald den Eindruck der Unregierbarkeit. Der von extremer politischer Polarisierung gelähmte Staat entging ein ums andere Mal nur mit knapper Not der Zahlungsunfähigkeit. Der Demokratische Präsident war belagert von Republikanischen Präsidialprätendenten, die mit Programmen um die Nominierung rangen, die aus dem Tollhaus zu stammen schienen, ohne dass dies dem Beifall ihrer prospektiven Wähler Abbruch zu tun schien.25 Die EU, immer nur mit halben oder viertel Maßnahmen und immer hinter den je neuen Krisendiktaten der ›Finanzmärkte‹ herhinkend, schien denen Recht zu geben, die sie als politisch gewolltermaßen totgeborenes Kind betrachteten, oder gar als Konstruktion, die »einzig die Desiderate der nationalen Monopolkapitalismen übernommen« und Deutschland die Möglichkeit gegeben habe, »Europa zu beherrschen«, also mittels der Ökonomie zu erreichen, was auf dem Wege der militärischen Eroberung zweimal gescheitert war: »ein ›deutsches Europa‹« (Amin 2011, 71). Der so sprach, erinnerte daran, dass die erste lang anhaltende Systemkrise des Kapitalismus der Monopole erst nach dreißig Jahren des Krieges und der Revolutionen eine Lösung fand. Er sah keinerlei Grund anzunehmen, dass die Katastrophe diesmal anders verlaufen würde. Während William Carroll (2010) eine »bessere Globalisierung« anstrebte, zielte Amin auf den Untergang der bestehenden als Voraussetzung einer möglichen späteren Rekonstruktion auf anderen Grundlagen. Daher lautete seine Losung: Die EU und die gesamte existierende Weltordnung – in unserer Sprache: das Imperium des transnationalen Hightech-Kapitalismus – müssen weg, damit auf ihren Trümmern etwas Besseres kommen kann! Unausgesprochen deutete er an, dass erst deren Untergang in einem neuen und nun wirklich globalen Weltkrieg den Ausgang aus der Großen Krise bringen könnte (76). In dem Maße, in dem solche Vorhersagen, deren Radikalität nicht durch Realanalyse erhärtet ist, auf Menschen einwirken, werden sie Teil der Wirklichkeit und fügen ihr Gewicht der Wahrscheinlichkeit hinzu, dass sie sich erfüllen. Wir ziehen es vor, mit den weiterentwickelten Denkmitteln der Kritik der politischen Ökonomie uns in die Phänomene und die auf sie antwortenden Deutungsversuche zu vertiefen. Das mag dazu beitragen, durch Stärkung der kognitiven Ich-Kräfte und der praktisch-politischen Wir-Kräfte der pessimistischen Lähmung entgegenzuwirken und der Handlungsfähigkeit der auf ein solidarisches Gemeinwesen gerichteten sozialen Bewegungen zuzuarbeiten.

      Theoretisches Intermezzo: Marxsche Krisenbegriffe

      Karl Marx had it right.

       Nouriel Roubini

      Der Weg von den Erscheinungsformen zu ihrer begrifflichen Analyse fängt nie von Null an. Zu allen Zeiten gilt Spinozas Feststellung, dass wir »bereits wahre Vorstellungen« haben. Dabei räumen wir ein, dass Wahrheit sich zwar nicht, wie die wahrheitslose Postmoderne es wollte, in bloßem Für-wahr-gehalten-werden erschöpft, aber doch ein Prozess ist.

      Was unsere Untersuchung angeht, sind wir vor allem Anfang im Besitz von theoretischen Begriffen und Thesen. Besonders die marxsche Kritik der politischen Ökonomie bietet sich an, uns beim Verständnis der Phänomene auf die Sprünge zu helfen. Aber wir werden nicht so tun, als hätten wir dank Marx immer schon alles gewusst. Unsere Untersuchung führt an die offenen Ränder der geschichtlichen Materie, und wir tun gut daran, uns auf dem Weg durch die Landschaft des Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise nicht gänzlich der Naivität zu entschlagen, mit der Grimmelshausen einst seinen Simplizius sich durch die Landschaft des Dreißigjährigen Krieges bewegen ließ. Wir werden also auch nicht immer schon klüger sein als die Akteure und ihre Beobachter, denen wir auf unserem Weg begegnen. Wir werden im Zuge des gegenwartsgeschichtlichen Prozesses unsere Begriffsinstrumente an den Phänomenen messen und prüfen, ob und wie diese sich mit jenen gedanklich aufschließen lassen. Mit einem Bilde gesprochen, das Sigmund Freud liebte, werden wir so verfahren, wie man beim Bau eines Tunnels verfährt, nämlich von beiden Seiten zu bohren. Nachdem wir auf der Erscheinungsseite begonnen haben, wenden wir uns zunächst in entgegengesetzter Einseitigkeit dem theoretischen Vorwissen zu, bevor wir in den folgenden Kapiteln einzelne Wirklichkeitsbereiche im Lichte unserer Leitfragen durchforschen.

      Über Marx als Kritiker des Kapitalismus sprechen heißt über seine Kritik der politischen Ökonomie sprechen. Was bedeutet hierbei Kritik? Sie meint vor allem anderen Analyse und Theorie, nicht Anschwärzung. Darin ist Kants Kritikbegriff aufgehoben. In der Kritik der reinen Vernunft ging es um die Untersuchung der Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis. In China habe ich mir die Schwierigkeit erklären lassen, diesen Kritikbegriff zu übersetzen. Das Wort bzw. das Schriftzeichen, das bereitsteht, bedeutet etwa »jemanden das Gesicht verlieren machen«. Was Marx zu leisten beansprucht, ist die »Kritik der ökonomischen Kategorien oder […] das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt«, und zwar auf eine Weise, die »zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben« ist (29/550). Der Ansatz ist gesellschaftstheoretisch, nicht binnenökonomisch. Er umfasst zugleich die von den Menschen »zur Produktion ihres Lebens eingegangenen Verhältnisse«, für die Marx den Begriff Produktionsverhältnisse in die Sprache eingeführt hat, und die Bewusstseinsformen, die dem Verhalten in diesen Verhältnissen entspringen. In dem Maße, in dem zwar wir in den Verhältnissen, die Verhältnisse aber nicht in unserem Bewusstsein sind, ist letzteres, gemessen an der Analyse und im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang, falsches Bewusstsein. Zur Kritik wird die Analyse also bereits, indem sie den Alltagsverstand seiner Täuschungen innewerden lässt. Zur Ideologiekritik wird sie, indem sie in den herrschenden Vorstellungen die Vorstellungen der Herrschenden aufweist oder Anspruch und Wirklichkeit miteinander konfrontiert. Wenn sie auf diese Weise parteilich wirkt, so ist sie nicht parteiisch. »Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt«, schreibt Marx im Nachwort zur 2. Auflage von Kapital I (23/22), kann sie nur die lohnabhängig Arbeitenden vertreten, »das Proletariat«. In jenem Soweit-überhaupt drückt sich eine prinzipielle Distanz des Wissenschaftlers Marx zur Arbeiterbewegung und ihrer Politik aus, der er im Rahmen der Internationalen Arbeiter-Assoziation, der später so genannten Ersten Internationale, zugleich dient. Diese Distanz mit ihrer Ferne zu Agitation und Propaganda macht erst die nachhaltige Wirkung möglich, mit der uns das Werk von Marx immer wieder entgegentritt.

      »Man kann kaum umhin«, schrieb Ralf Dahrendorf 2001 – die Dot.com-Blase der Hightech-Spekulation war gerade geplatzt –, »an die dramatische Analyse im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels zu erinnern.« Folgen wir dem Wink. Erstens zur Entwicklung der Technologie: »Die Bourgeoisie«, heißt es im Manifest, »kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« (4/465) Und folglich: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus.« (Ebd.)

      Zweitens zur globalen Expansion: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« (Ebd.) Und folglich: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen hinweggezogen.« (466)

      Drittens zur Krisenhaftigkeit: Die »moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse […]. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten


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