Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
(Gebrauchswerte) bezieht, nicht zufrieden geben und stattdessen versuchen, mit Marx ins innere Getriebe des Kapitalverwertungsprozesses im systemischen Ganzen vorzudringen.
6.1 Extraprofit als Magnet der Produktivkraftentwicklung
Dank einer dem Standard vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung können Einzelkapitale einen Extraprofit erzielen. Die Konkurrenten müssen bei Strafe des Untergangs nachziehen, wodurch das neue Produktivitätsniveau zum Standard und der Extraprofit eingeebnet wird, sofern er nicht aus einer dem nunmehr neuen Standard wiederum vorauspreschenden Produktivkraftentwicklung neu entspringt. Das Kapital kann sich folglich im Ganzen nicht anders vermehren, als indem es zugleich seine Produktionsweise permanent umwälzt. Der letzte Große Sprung vorwärts dieser Art war der zur computergestützten Produktionsweise, der sich mit seiner Myriade kleinerer Sprünge in der Dynamik des transnationalen Hightech-Kapitalismus noch immer als Destabilisierung und Dynamisierung aller Produktions-, Politik- und Lebensverhältnisse auf Erden bemerkbar macht.
Produktivitätsschübe, die nicht durch Verkürzung der Arbeitszeit oder durch wachsende Nachfrage ausgeglichen werden, setzen Arbeitskräfte frei. Für den Fall, dass die durch technische »Steigerung der Arbeitseffizienz« bewirkte Freisetzung im Unterschied zur konjunkturellen Arbeitslosigkeit nicht durchs Wachstum neuer Branchen ausgeglichen wird, hat Emil Lederer zur Zeit der Großen Krise des Fordismus in den 1930er Jahren den keynesschen32 Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« weiter ausgearbeitet (1938/1981, 51ff).33 Für uns Heutige bietet sich in der Großen Krise des Hightech-Kapitalismus der Begriff der hochtechnologischen Arbeitslosigkeit an. Wir können davon ausgehen, dass längerfristig »die Leistung je Beschäftigtenstunde (Arbeitsproduktivität34) schneller steigen wird als das Bruttoinlandprodukt«, mit der Folge, dass das benötigte »Arbeitsvolumen« weiter zurückgeht (Hickel 2004). Die Versuchung liegt nahe, angesichts ungünstiger Kräfteverhältnisse regressiv zu reagieren wie einst die Maschinenstürmer und die Rückkehr zu arbeitsintensiven Produktionsweisen zu fordern. Doch es führt nur zu unglücklichem Bewusstsein und politischen Niederlagen, wo nicht gar zum Umschlag in finstere Reaktion, einer illusionär verklärten Vergangenheit nachzujammern und das Alte zu »betränen«, wie Marx zu sagen pflegte. Wir wollen gegen unsere heutige geschichtliche Enteignung angehen. Das verlangt zunächst Verständigung darüber, was der Fall ist, welcher objektiven Möglichkeiten wir unter den bestehenden Verhältnissen beraubt werden.
32 »We are being afflicted with a new desease of which some readers may not yet have heard the name, but of which they will hear a great deal in the years to come – namely technological unemployment. This means unemployment due to our discovery of means of economising the use of labour outrunning the pace at which we can find new uses for labour.« (Keynes 1930, CW 9, 325; vgl. Kurz 2002, 340) Beruhigend fügt Keynes hinzu, jener Zustand sei aber nur vorübergehendem Anpassungsmangel geschuldet (ebd.).
33 Während Keynes und Lederer den Begriff der »technologischen Arbeitslosigkeit« gesamtwirtschaftlich anlegen, verengt Ralf Dahrendorf seinen Sinn betriebswirtschaftlich auf »Arbeitslosigkeit auf Grund des Preisvorteils der Technik gegenüber der Arbeit« (1983, 25ff; zit.n. Kurz 2002, 350).
34 Zu den Schwierigkeiten, Arbeitsproduktivität analytisch aus der bürgerlichen Statistik herauszurechnen, welche die Daten in den empiristisch-gewinnorientierten Kategorien der kapitalistischen Praxis abbildet, vgl. Scherrer 2001. Alles scheint hier darauf angelegt, die hochtechnologisch gesteigerte Arbeitsproduktivität hinter der Profitrate verschwinden zu lassen. Dass diese sinken kann im Zuge des Fortschritts der Arbeitsproduktivität, entspricht einerseits dem marxschen Tendenzgesetz des Falls der Profitrate und wird verschärft durch die Zunahme der Konkurrenz und die dramatische Verkürzung der Amortisationsfristen. »Cutthroat competition demands shortening the life cycle of products and launching new designs before investments can be completely repaid.« (Katz 2011)
6.2 Die These vom tendenziellen Fall der Profitrate
Auf der Produktivitätsdynamik fußt nun eine weitere, deren Effekt auf den ersten Blick verrückt erscheint: je mehr stofflichen Reichtum die menschliche Arbeit zu schaffen vermag, desto schwächer wird – im Kapitalismus, wohlgemerkt, und nur hier! – der Antrieb zur Reichtumsproduktion. Spezifischer Antrieb kapitalistischer Produktion ist ja nicht der stoffliche Reichtum an Gebrauchswerten, sondern der abstrakte, in Geld ausgedrückte Reichtumszuwachs, anders gesagt, der Mehrwert im Verhältnis zum eingesetzten Kapital. – Erinnern wir uns: Mehrwert entspringt der lebendigen Arbeit ab dem Moment, an dem sie den Wert der Arbeitskraft reproduziert hat. Alle Arbeitszeit über diesen Punkt hinaus ist Mehrarbeitszeit, und das erste Verhältnis, um das es dem Kapital geht, ist das Verhältnis der Mehrarbeit zur (für die Reproduktion der Arbeitskraft) notwendigen Arbeit bzw., in Wert ausgedrückt, das Verhältnis des Mehrwerts (m) zum (als Lohn gezahlten und, weil den wertmäßig variablen Kapitalteil darstellend, als v abgekürzten) Wert der Arbeitskraft, kurz: die Mehrwertrate (m/v). Das darauf aufbauende Verhältnis, ist das der Masse des angeeigneten Mehrwerts (M) zum Wert der insgesamt eingesetzten persönlichen (V) und sachlichen (C) Produktionsfaktoren, kurz: die Profitrate (M/C + V). Weil aller Wert vergegenständlichte Arbeit ausdrückt, umschreibt Marx das Verhältnis von V und C auch als das Verhältnis der lebendigen Arbeit zur toten Arbeit. Mit der Produktivkraftentwicklung schrumpft nun die lebendige im Verhältnis zur toten Arbeit, und mit der steigenden Komplexität der Anlagen tendiert deren Geldausdruck (Anlagekapital) im Verhältnis zu dem in Lohn ausgedrückten Kapitalteil nach oben. Sofern nun die »Wertzusammensetzung des Kapitals […] durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt«, spricht Marx von der »organischen Zusammensetzung des Kapitals« (23/640). Nehmen wir ein empirisches Beispiel: kostete 1970 eine Chipfabrik 30 Millionen, so zu Beginn des 21. Jahrhunderts annähernd das Hundertfache. Auch wenn für einen genauen Vergleich weitere Parameter einbezogen werden müssten und die zwischenzeitlich akkumulierte Inflation herauszurechnen wäre, deutet sich der gewachsene Investitionsbedarf pro Arbeitsplatz an. Wenn aber nur die Arbeit Mehrwert bildet und die Profitrate durch das Verhältnis des Mehrwerts zum eingesetzten Kapital bestimmt ist, ergibt sich das Gesetz, dass bei steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals die Profitrate fällt. Das Beispiel der Chipfabrik zeigt aber auch, wie Produktivkraftentwicklung die Herstellung der Produktionsmittel erfassen und die Produkte verändern und zusätzlich verbilligen kann. Wenn sie die Lebensmittel im weitesten Sinn der zum Leben benötigten Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände ergreift, wozu inzwischen auch die zunehmend in den unterschiedlichsten Gebrauchsgütern fungierenden Chips gehören, kann Produktivkraftentwicklung die relativen Kosten der Arbeitskraft senken. Sofern nicht durch Arbeitszeitverkürzung wettgemacht, erhöht sich also der Anteil der Mehrarbeit am Arbeitstag und so die Ausbeutungsrate (Mehrarbeit/notwendige Arbeit). Diese beiden realen Möglichkeiten der Wertsenkung von C und V nennt Marx »entgegenwirkende Ursachen«. Er spricht daher vorsichtig vom bloß »tendenziellen« Fall der Profitrate. – Wie immer man das Sinken der Profitrate erklärt, der Wirtschaftshistoriker Robert Brenner kann zeigen, dass es sich dabei um eine langfristige Tendenz handelt. Auf diese Tendenz antwortete das Kapital, unterstützt von staatlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit einer Reihe von Profit-Forcierungspolitiken, deren Folgen sich in der Großen Krise entladen haben.
6.3 Das Überakkumulationsgesetz
Der kapitalistische Gesamtprozess wie alle private Warenproduktion regelt sich reaktiv aus der Verfehlung des Gleichgewichts, da der gesellschaftlichen Gesamtproduktion kein Plan zugrunde liegt. Das gilt auch für die kapitalistische Warenproduktion. Doch bei ihr kommt etwas Entscheidendes hinzu. Und zwar ist die Verfehlung der gleichgewichtigen Proportionalität ihrem bestimmenden Zweck und treibenden Motiv, der Aneignung von Mehrwert und seiner Verwandlung