Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
wenn er erwartet, dass sie verkaufen. Er wird vertrauen, wenn er darauf vertraut, dass sie vertrauen. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Es geht darum, das Feldverhalten zu antizipieren, um einen Vorteil daraus zu ziehen.
Denken, Verhalten und Verhältnisse schließen sich hier zu einem Rückkoppelungszusammenhang. Das Handeln fällt ins Objekt. Irgendwann schlägt dann das Irreale oder Real-Imaginäre dieser erwarteten Erwartungen oder begehrten Begierden, das von den stofflich investierten Kapitalprozessen an der langen Leine geführt wird, in die Krise um. Dies macht die Börse für Friedrich von Hayek zur »Parabel für seine Gesellschaftstheorie« (Seuß 1980), und wir könnten bescheidener sagen: zu einem Gleichnis für den Markt überhaupt. Nur dass bei der Börse alles vergrößert und wie im Zeitraffer erfolgt, während sich die Rückkoppelung beim Markt produzierter und reproduzierbarer Güter normalerweise unvergleichlich langsamer auswirkt, weil sie nicht nur durch die Produktionszeit hindurch muss, sondern zusätzlich durch die Zirkulationszeit, womöglich sogar durch die Zeit der Umrüstung von Anlagekapital. In der Krise kann der lähmende Rückschlag aufs industrielle und Handelsgeschehen dann aber fast augenblicklich – in Gestalt der Panik – erfolgen.
Trotz ihres eigenen Zeitregimes spiegelt die Börse, auch wenn sie ›verrückt spielt‹, den normalen Gang einer Prozessstruktur, die sich immer erst nachträglich, über ihre Resultate reguliert. Und wie das Geld, der abstrakte Reichtum, schließlich doch immer wieder zurück muss zum konkreten Reichtum, zieht es den Börsenverlauf, so surreal er sich gebärdet, endlich immer wieder zurück an den handfest-industriellen Verwertungsprozess des Kapitals. Wenn aber die Börsenkrise zurückschlägt auf den Gesamtprozess und mitten im überquellenden Reichtum die Not der allgemeinen Wirtschaftskrise über die Gesellschaft hereinbricht, zeigt sich ihr Surreales als das Herz der Realwirtschaft. Das Oszillieren ist nur die Form, in welcher der planlose Plan aller privat-arbeitsteiligen Produktion sich bewegt. Darin, dass dem Überfluss an Reichtum der allgemeine Mangel entspringt, drückt sich die »Plusmacherei« als Selbstzweck aus. In mehr oder weniger blinden Konvulsionen vernichtet das System, was es stört: überschüssiges Kapital und damit auch die »Überkapazität« Brenners. Dabei zerstört es Habe, Heimat und Lebenschancen der Völker, verwandelt sie, mit dem Wort von Ricardo, in »redundant population«, »überflüssige Arbeiterpopulation«,36 und betrügt zumal die Jugend um ihre Zukunft.
36 »Es ist eins der großen Verdienste Ricardos, die Maschinerie nicht nur als Produktionsmittel von Waren, sondern auch von ›redundant population‹ begriffen zu haben.« (Marx, K I, 23/430, Fn. 154) Im Haupttext setzt Marx »überflüssige Arbeiterpopulation« (ebd.). Kautsky fügt in der Fußnote in eckigen Klammern »überschüssige Bevölkerung« ein (Volksausgabe, Hamburg 1914, 351).
8. Ein Blick über die Grenze des Kapitalismus
Selbst wenn tatsächlich »ein anderer Kapitalismus« das Maximum des in absehbarer Zeit Erreichbaren darstellen sollte, ist dieses doch nur zu erreichen, wenn über die Grenzen des Kapitalismus hinausgegangen wird. Sowohl in der Praxis als auch – weiter ausgreifend – in der Theorie. Marx kann klärend dazu beitragen, dass das Hinaus über den Kapitalismus nicht in ein bewusstloses Zurück umschlägt. Unsere Regierenden laborieren längst an den Grenzen des Kapitalismus. Sie tun es angesichts dessen, was Marx die »ergänzende Erscheinung« der Kapital-Überproduktion bzw. Überakkumulation nennt, nämlich der wachsenden Masse »unbeschäftigter Arbeiterbevölkerung« (25/261).
Ist Kapitalüberproduktion eine im engsten Sinn systemimmanente Störungsquelle, so die Erzeugung von Massenarbeitslosigkeit, ja die Erzeugung von auf Dauer »überflüssiger« Bevölkerung eine, die geeignet ist, kapitalistische Gesellschaften von innen auszuhöhlen und die Bedingungen für die Möglichkeit demokratischer Regierung zu untergraben. Werfen wir einen Blick auf diesen Effekt: Steigt die Produktivität durch Entwicklung der sachlichen Produktivkräfte, wird also weniger Arbeit fürs einzelne Produkt benötigt, so bleibt die Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt nur unter der Voraussetzung stabil, dass die Menge der insgesamt nachgefragten Produkte steigt. Produktinnovation und die dadurch bewirkte technische oder ästhetische Veraltung noch fungierender Güter ist eine Möglichkeit, zusätzliche Nachfrage zu stimulieren. Eine andere Möglichkeit besteht in der Erschließung neuer Märkte. Doch keiner dieser Wege kann unbegrenzt beschritten werden.
Stoßen Kapital und die zu seiner Unterstützung aufgebotene staatliche Wirtschaftspolitik auf diese Grenze, kompensieren demokratische Regierungen das Marktversagen durch allerlei Erfindungen, solange ihnen der finanzielle Spielraum bleibt. Ich-AG und Ein-Euro-Jobs sind noch in Erinnerung, und auch die Erfindung der Null-Kurzarbeit, mit der im Verein mit der Abwrackprämie die Deutschen bei der Stange gehalten wurden, verdient bei allem Bedrohlichen die fröhliche Kritik derer, die darin die Hilflosigkeit ihrer Oberen erkennen.
Die Fröhlichkeit endet, wenn in der Staatsschuldenkrise auch solche Manöver an der Grenze des Kapitalismus auf ihre Grenzen stoßen. Im marxschen Manifest heißt es: »Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft« (4/473). Dass die Kapitalistenklasse das Proletariat »ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden«, ist die das Denken in die Gänge bringende rhetorische Überspitzung eines realen Widerspruchs. Im Ganzen unmöglich, ja absurd, macht sich diese Notwendigkeit doch immer wieder partiell geltend. Allerdings springt nicht die Kapitalistenklasse ein, sondern der Staat, und dieser schließt zuvor alle Lohnarbeitenden in einer Zwangsversicherung gegen die Notlage der Arbeitslosigkeit zusammen, um aus deren Kassen dann zumindest einen Teil des Proletariats zu ernähren, statt von ihm ernährt zu werden – Politik an den Grenzen des Kapitalismus. Bis dann dieser Politik der Geldhahn Stück um Stück zugedreht wird und das den »Langzeitarbeitslosen« gewährte, von vornherein kümmerliche Überlebensgeld beschnitten wird. In der Bundesrepublik betrifft dies an die zehn Prozent der Bevölkerung, denn inzwischen stecken hier 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger und ihre Familien »dauerhaft im Hartz-IV-System fest« (Heitmeyer 2010, 19). Als in der Großen Krise die südeuropäischen Länder begannen, am Rande des Staatsbankrotts zu lavieren, erfasste die Verarmung die Bevölkerungsmehrheit. In solchen Situationen bricht eine Zeit an, in der das gesellschaftliche Leben chaotisch an der Grenze des Kapitalismus aufläuft. Es stockt vor der notwendenden Möglichkeit, dass die Gesellschaft ihre Lebens- und Überlebensbedingungen dem Kapital als regelndes Gesetz aufherrsche. Widrigenfalls droht es zurückzufluten in Autoritarismus, wenn die manifeste Ohnmacht demokratischer Regierungen von deren Wählerschaft als die eigene erfahren und mit dem Wunsch nach dem Starken Mann und der Harten Hand kompensiert wird. Auf der anderen Seite der Grenze liegt die terra incognita, wo zu erwarten ist, dass die assoziierten Gesellschaftsmitglieder die Besorgung des für sie Notwendigen ohne Dazwischenkunft fetischistischer Mächte in die eigenen Hände genommen hätten.
Drittes Kapitel
Was ist neu an dieser Krise?
1. Was genau ist in Krise geraten?
Wir beginnen mit einer Frage, die sich zunächst selbst zu beantworten schien, sodass »niemand sie zu stellen für nötig hielt«.37 An einer Krise Maß zu nehmen, ihre Dynamiken und die von ihr bedingten Handlungsmöglichkeiten auszuloten, setzt Klarheit über die Formation voraus, die da in Krise geraten ist. Mit ihrer historischen Neuartigkeit erst tritt die Materialität der Zeit in den Blick. Ohne diese Klärung wird man Entwicklungsphasen, die in allen Epochen auftreten, fürs Wesen der aktuellen Formationsbestimmtheit halten.